„Nicht mehr sicher, ob sie noch am richtigen Ort sind“

Wunibald Müller im Gespräch mit Stephan Karkowsky |
Die Menge überforderter Priester und Ordensleute steigt an. Zu spüren kriegt das Wunibald Müller, der die ausgebrannten Seelsorger als Therapeut betreut.
Stephan Karkowsky: Für viele haben nach den Skandalen der letzten Monate Geistliche als Vorbilder ausgedient. Mehrere 10.000 Menschen verließen bereits die katholische Kirche. Andere, besonders Eltern, tauschen Vertrauen für und Respekt vor dem Herrn Pfarrer ein gegen ein gesundes Misstrauen, und darunter leiden nun die Seelsorger. Um deren Psyche kümmert sich seit 20 Jahren der Theologe und Therapeut Wunibald Müller im kircheneigenen Recollectio-Haus der Abtei Münsterschwarzach in Unterfranken. Grüß Gott, Herr Müller!

Wunibald Müller: Guten Morgen, Grüß Gott!

Karkowsky: Sie hatten sich auf dem Höhepunkt immer neuer Enthüllungen über Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche ja zunächst zurückgezogen und gar keine Interviews mehr gegeben. Was war da bei Ihnen los, in dieser Zeit vor etwas mehr als einem Jahr?

Müller: Gut, ich wurde natürlich von allen Rundfunkstationen und Zeitungsstationen im Grunde genommen angefragt, mich zu dem Thema sexueller Missbrauch zu äußern. Ich habe mich mit dem Thema seit über 15 Jahren befasst, auch aufgrund meiner Kontakte zu den USA, und zu diesem Zeitpunkt habe ich dann gemerkt, das Recollectio-Haus, das ist das Haus, in dem ich arbeite, und die Abtei Münsterschwarzach und sexueller Missbrauch Minderjähriger durch Priester in einem Atemzug genannt wurden, und das war natürlich auch nicht gut für unsere Arbeit hier. Und da habe ich gedacht, ich muss zum Schutze auch für unsere Arbeit hier mich hier jetzt zurückhalten. Das war der Grund.

Karkowsky: Waren das vielleicht auch die bohrenden Fragen der Journalisten, die von Ihnen, also dem Therapeuten, Details erfahren wollten über die Taten der Täter?

Müller: Das weniger, nein, dazu hatte ich mich auch schon in Büchern und in Zeitungsartikeln und in Zeitschriftenartikeln geäußert. Das war nicht der Grund dafür.

Karkowsky: Würden Sie denn sagen, auch für Ihre Arbeit im Recollectio-Haus war der Höhepunkt der Missbrauchsenthüllungen eine Zäsur, seit der alles anders geworden ist?

Müller: Das kann ich eigentlich nicht sagen, weil das Thema natürlich Sexualität, Zölibat, sexueller Missbrauch schon seit zehn, 15 Jahren immer wieder ein Thema war. Es hat jetzt dazu geführt, dass man noch offener da drüber sprechen kann, und es hat vor allem dazu geführt, dass das, was so auch von unserer Arbeit her nach außen hin mitgeteilt wird, auch den Verantwortlichen der Kirche gegenüber mitgeteilt wird und versucht wird zu vermitteln, auch offener angenommen wird, auch eher akzeptiert wird. Insofern würde ich sagen, hat eine Zäsur stattgefunden, dass man offener über diese Themen sprechen kann, und dass auch das, was wir als Psychotherapeuten, als geistliche Begleiter sehen, ernster genommen wird. Auch bei den Verantwortlichen, den Bischöfen in der Kirche.

Karkowsky: Woraus besteht nun genau der Hauptteil Ihrer Arbeit? Sind das Einzeltherapien oder sind das vor allen Dingen Gruppenarbeit und gemeinsame Kurse?

Müller: Es ist eine gute Mischung, es sind Einzeltherapien und einzel-geistliche Begleitung sowie auch Gruppentherapie, das heißt, die Männer und Frauen, Priester, Ordensleute, kirchliche Mitarbeiter, Mitarbeiterinnen, die hierher kommen, kommen für ein Vierteljahr hierher, werden psychotherapeutisch und spirituell begleitet. Und das Besondere ist, dass der spirituellen Dimension der gleiche Stellenwert zugeordnet wird wie der psychotherapeutischen Dimension.

Karkowsky: Psyche und Seele sind ja in der Kirche eigentlich das Gleiche, oder?

Müller: Psyche und Seele… ja, ich würde sagen, die Psyche ist natürlich etwas, was mehr den Herzbereich angeht, die Seele ist etwas, was noch tiefer angelegt ist, und über die Seele findet natürlich auch in einer besonderen Weise der Kontakt zu Gott statt. Dass da doch noch mal eine zusätzliche Dimension, nämlich die spirituelle Dimension zumindest akzentuiert wird.

Karkowsky: Was sind nun die Hauptprobleme, mit denen Kirchenmitarbeiter zu Ihnen kommen?

Müller: Zunächst einmal möchten die Männer und Frauen, die zu uns kommen, sich etwas Gutes tun, möchten vielleicht, wenn sie zehn Jahre in einer Pfarrei tätig waren, mal zurückschauen, was ist da gut gelaufen, was ist nicht gut gelaufen, was habe ich vielleicht möglicherweise vernachlässigt? Dann kommen zu uns Männer und Frauen, Seelsorger und Seelsorgerinnen, die dabei sind, auszubrennen, die merken, Mensch, mir macht die Arbeit gar keine Lust mehr, oder aber die schon ausgebrannt sind, die keine Lust mehr haben an der Arbeit, die – ihre Beziehung zu Gott ist kalt geworden, die hierherkommen. Oder es sind auch natürlich Männer und Frauen, die sich in einer handfesten Krise befinden, die sich nicht mehr sicher sind, ob die Berufung, Priester zu werden, Ordensfrau zu werden, wirklich von ihnen auch abgedeckt ist. Oder aber auch die – jetzt aufgrund von der allgemeinen kirchlichen Situation – sich nicht mehr sicher sind, ob sie noch am richtigen Ort sind, an Selbstwertproblematiken leiden, weil sie immer mehr merken, dass was wir eigentlich anbieten, wird von den Menschen immer weniger gefragt. Und das macht natürlich auch etwas mit dem eigenen Selbstwertgefühl.

Karkowsky: Und wie gehen Sie damit um?

Müller: Gut, wir gehen damit um, dass wir hier zunächst mal einen Raum anbieten, in dem man offen, ohne Vorbehalte über alles sprechen kann: Über meine Zweifel an Gott, über meine Probleme mit der Sexualität, über meine innere Not, über meine Depression und so weiter. Und dann versuchen wir, dass wir durch die therapeutischen Gespräche, durch die geistliche Begleitung die Menschen wieder aufzubauen. Bei uns könnte man so als Überschrift nennen: Du hast mehr Möglichkeiten, als du ahnst. Also guck, was an Potential bei dir eigentlich noch vorhanden ist, mit dem du noch nicht in Berührung bist, und der zweite Teil dieses Mottos wäre: Ganz zu schweigen von den ungeahnten Möglichkeiten Gottes mit dir, vertraue darauf, dass Gott mit dir noch einiges vorhat und gib ihm eine Chance, dass er an dir noch das wirken kann, was er eigentlich wirken möchte.

Karkowsky: Sie hören im „Radiofeuilleton“ den katholischen Therapeuten Wunibald Müller. Er kümmert sich um die Lebenskrisen hauptamtlicher katholischer Kirchemitarbeiter. Herr Müller, Sie haben in einem anderen Interview mal Ödon von Horvath zitiert mit dem Satz: „Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu!“ Das war natürlich auf Ihre Klienten gemünzt. Wie ist das gemeint gewesen?

Müller: Es ist so gemeint: Viele Priester, viele Seelsorger treten an mit der Absicht: Ich möchte wirklich den Menschen nahe sein, ich möchte mir Zeit nehmen für sie. Mit dem Ergebnis, dass sie inzwischen merken, ich bin im Grunde genommen zum Manager geworden, ich habe immer mehr Pfarreien zu versorgen, und das, was ich eigentlich tun wollte, den Menschen nahe sein, mir Zeit zu nehmen für sie, immer mehr zu kurz kommt. Oder aber, dass sie auch zunehmend spüren, ihre eigene spirituelle Überzeugung, ihre eigene theologische Überzeugung findet oft immer weniger Platz innerhalb dessen, was von der Kirche auch offiziell von ihnen verlangt wird. Und das kann dazu führen, dass sie eben irgendwann merken: Ja, eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme selten dazu. Und wenn ich auf Dauer eigentlich ganz anders bin, als ich wirklich bin, dann werde ich seelisch krank.

Karkowsky: Bevor die Welt nun so ausführlich vom Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche erfahren hat, waren ja der Herr Pfarrer, der Herr Bischof, der Kardinal Respektspersonen, die im Sinne Gottes – also der höchsten Autorität – gehandelt haben. Da gab es kaum Kritik von Gläubigen, moralische Verfehlungen ließen sich vertuschen, und heute nun scheint es nur noch gläserne Pfarrer zu geben. Sie sagen, die Kirche geht sehr viel offener mit solchen Problemen um, aber auch jede Berührung im Kommunionsunterricht wird registriert, jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Was macht das mit den Priestern?

Müller: Gut, das führt natürlich zu einer großen Verunsicherung und führt auch natürlich dazu, dass sie den Menschen, auch zum Beispiel den jungen Menschen nicht das geben können, was sie ihnen eigentlich geben möchten, und dazu gehört manchmal auch, dass ich jemandem aufmunternd den Arm auf den Rücken lege, dass ich auch jemanden, der weint zum Beispiel, als Kind, in den Arm nehmen darf. Das trägt zu einer großen Verunsicherung bei, das wird sich dann auch in den Gesprächen hier zum Beispiel niederschlagen.

Karkowsky: Nun gibt es auch Kirchenaustritte, und zwar jede Menge, im letzten Jahr waren es mehrere 10.000, die die katholische Kirche verlassen haben. Weniger Kirchenmitglieder heißt, Pfarrgemeinden werden zusammen gelegt. Ein Pfarrer, viele Kirchen, die Arbeitsbelastung für die einzelnen Mitarbeiter wächst. Wie wirkt sich das aus?

Müller: Das wirkt sich darin aus, dass natürlich die private Welt der Priester und der Seelsorger immer kleiner wird und die Welt der Arbeit immer mehr wird, und das ist genau das, was dann typisch ist für das Burnout. Die Leute brennen aus, sie tun nicht mehr angemessen Sorge tragen für sich selbst. Und das sind dann natürlich auch ganz viele der Männer und Frauen, die zu uns kommen, weil eben sie ausgebrannt sind, weil keine Leidenschaft mehr da ist, weil keine Lust mehr da ist, weil sie die private, eigene Welt vernachlässigen.

Karkowsky: Und das ist ja in der Kirche ein ganz besonderes Problem, weil das System Kirche so ein geschlossenes ist. Man studiert auf kirchlichen Hochschulen oder auf staatlichen, bei denen ja dann auch das letzte Wort die Kirche hat. Der Arbeitgeber ist Monopolist, ein katholischer Pfarrer kann nicht einfach zur evangelischen Kirche wechseln, Berufswechsel sind nicht vorgesehen. Man verpflichtet sich, sein Leben der Kirche zu widmen und nur der Kirche, nicht mal eine Familie darf ich mir als Pfarrer aufbauen. Was meinen Sie, ist dieses System denn heute noch zeitgemäß oder ist es genau das System, das zur Überforderung so vieler Kirchenmitarbeiter führt?

Müller: Gut, zum einen ist es tatsächlich so, dass dieses System nach außen noch existiert, dass aber es nach innen hin immer mehr zerbröckelt, dass auch immer mehr emanzipierte Seelsorger und Seelsorgerinnen da sind, die auch schauen, wie sie innerhalb dieses Systems nicht nur überleben können, sondern auch leben können, auch sich gegen bestimmte Dinge wehren. Darüber hinaus glaube ich, dass es oft auch ein Thema der eigenen Persönlichkeit ist, wie ich innerhalb eines Systems damit umgehen kann. Manchmal ist es wichtig, einfach die Verrücktheiten, die mich umgeben, umarmen zu können, um dann gleichsam mit einer großen neuen Freiheit, und das auch bewältigen zu können und damit umgehen zu können. Und so ist es zum Beispiel auch eine der Aufgaben hier, die Männer und Frauen, die zu uns kommen, zu stärken in ihrer Ich-Stärke, dass sie hinstehen können, und dass sie auch schauen können, was für sie stimmt.

Karkowsky: Mit Verrücktheiten meinen Sie auch den Zölibat?

Müller: Nicht in dem Sinne, ich meine, verrückt in dem Sinne, dass natürlich jetzt zu sagen, um des Himmelsreiches willen auf die Ehe zu verzichten, ist das etwas, was die normale Denkweise verrückt. Nein, da denke ich zum Beispiel, was das Zölibat angeht, da ist für mich immer das Thema wichtig, dass jemand fähig ist zu innigen, zu tiefen Beziehungen, dass er zölibatär leben nicht verwechselt mit: Ich muss alleine leben. Auch jemand, der zölibatär lebt, darf doch tiefe, innige, zölibatäre Freundschaften zu anderen Männern und Frauen haben. Wenn er darauf ein Leben lang verzichten würde, dann würde er krank werden. Aber allein jetzt auf die sexuelle Dimension zu verzichten, die muss jemanden nicht krank machen. Hier geht es oft auch um eine verzerrte Vorstellung von Zölibat.

Karkowsky: Die Menge überforderter Priester und Ordensleute steigt an. Zu spüren kriegt das Wunibald Müller, der die ausgebrannten Seelsorger als Therapeut betreut. Herr Müller, Ihnen danke für das Gespräch!

Müller: Bitteschön, und schönen Tag noch!
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