Nicht länger Opfer sein

Sie wurde als Elfjährige von einem Sexualstraftäter entführt und jahrelang vergewaltigt. Ihrem Peiniger gebar sie zwei Töchter. Die Amerikanerin Jaycee Dugard hat ein schonungsloses Buch über ihre Qualen geschrieben und gezeigt: Der Horror hat sie nicht gebrochen.
Es ist einer der aufsehenerregendsten Kriminalfälle der Vereinigten Staaten: Am 27. August 2009 endete die 18-jährige Gefangenschaft von Jaycee Dugard. Die junge Frau war als Elfjährige auf dem Weg zur Schule von dem Ehepaar Nancy und Phillip Garrido - er ein verurteilter Sexualstraftäter - auf offener Straße entführt worden. Die folgenden knappen zwei Jahrzehnte verbrachte sie in der Nähe von San Francisco, eingesperrt in einem Bretterverschlag.
Dort erlebte sie grausamste Misshandlungen: Sie wurde vergewaltigt, gedemütigt, ihrer Identität beraubt. Und sie gebar im Alter von 14 und 17 Jahren zwei Töchter, für die sie aber nicht Mutter sein durfte. Die Kinder wurden im Glauben gelassen, sie sei deren ältere Schwester. Jaycee Dugards Befreiung erfolgte schließlich durch Zufall: Zwei Polizisten schöpften Verdacht, als Phillip Garrido in Begleitung der zwei Mädchen religiöse Schriften verteilte. Mädchen, deren Herkunft er den Beamten nicht erklären konnte.

Es ist ein Schicksal, für das es keine Worte zu geben scheint. Und doch findet Jaycee Dugard selbst den richtigen Weg, ihre Geschichte zu erzählen. "A Stolen Life" nennt sie sie, "Ein gestohlenes Leben". Das Buchcover ziert ein Foto der elfjährigen Jaycee; zeigt, wie sie fröhlich lachend die Zunge herausstreckt. Dabei gibt es beim Lesen wenig zu lachen.
In fast schon kindlich naivem Ton nimmt sie ihre Leser auf mehr als 300 Seiten mit in die dunkelsten Stunden ihres Lebens. Sie lässt nichts aus. Keine der zahlreich erlebten Grausamkeiten. Alles wird beschrieben, bis zur Schmerzgrenze. Schonungslos führt Jaycee Dugard so vor Augen, was ein psychisch kranker Mann und seine Ehefrau ihr angetan haben. Welche totale Kontrolle die beiden über sie hatten - sogar noch nach der Befreiung. Als ein Polizist sie nach ihrem Namen fragt, ist sie unfähig, ihn zu nennen. Phillip und Nancy Garrido hatten sie in den Jahren der Gefangenschaft immer nur Allissa gerufen.

Über weite Strecken wird das Buch so zu einem Dokument der Verzweiflung. Vor allem an den Stellen, wo direkt aus Dugards Tagebucheintragungen zitiert wird. "Warum habe ich keine Kontrolle über mein Leben? Ich weiß nicht einmal mehr, ob meine Gedanken mir gehören", heißt es da. Oder: "Ich denke nicht, dass ich außerhalb dieser Mauern, auf mich gestellt überleben könnte."

Schutz bietet der Entführten nur die Erinnerung an ihre Mutter. Jeder Gedanke an sie wird zum inneren Schutzraum, den der Kidnapper nicht zerstören kann. Psychologen nennen das Resilienz und beschreiben damit die Fähigkeit, Krisen durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern. Auch davon erzählt dieses ergreifende Buch.

Am Ende ist klar: Jaycee Dugard will nicht länger Opfer sein. Sie schildert ihr Schicksal in aller Deutlichkeit, auch um den Tätern die Macht zu nehmen. Und es gelingt ihr. Sie befreit sich aus den Fesseln. Selbst dann, wenn sie sich mit den psychischen Motiven ihres Peinigers beschäftigt, erzählt sie alles konsequent aus ihrer Perspektive. Authentisch und unmittelbar. Die heute 32-Jährige zeigt: Der Horror hat sie nicht gebrochen. Schritt für Schritt holt sie sich ihr gestohlenes Leben zurück.

Besprochen von Kim Kindermann

Jaycee Dugard: Ein gestohlenes Leben
Als Kind entführt, nach 18 Jahren befreit
Aus dem Amerikanischen von Claudia Franz.
Piper, München 2012
304 Seiten, 9,99 Euro