Nicht "krass", sondern "prima"

Rezensiert von Rainer Moritz |
Alle Texte sind endlich. Oder fast alle. Vierzig Jahre, nachdem der französische Autor René Goscinny (der es auch mit Lucky-Luke und als Asterix-Texter zu Weltruhm brachte) zusammen mit dem Zeichner Jean-Jacques Sempé die Figur des "petit Nicolas", des kleinen Nick erfunden hatte, tauchten 80 nie in Buchform erschienene Geschichten wieder auf.
Goscinnys Frau fand die zuerst in der Zeitung "Sud-Ouest Dimanche" erschienenen Texte auf dem Dachboden, und selbst dann dauerte es noch Jahre, bis Tochter Anne sich zur Buchausgabe entschloss. Zu Recht, denn auch "Neues vom kleinen Nick" enthält urkomische Schul- und Familienepisoden, in denen die Kinder das große Wort führen und die Erwachsenen nur begrenzt ihrer Vorbildrolle gerecht werden.

Nick weiß sich eingebunden in einen stabilen Freundeskreis, der aus charakterstarken Typen besteht: Otto zum Beispiel, ein übergewichtiges Kind, dessen Denken ausschließlich um Croissants, Butterbrote, Marmeladentöpfe und Gulasch kreist. Oder Franz, der Pausenhofkonflikte auf seine Weise löst:

"Der Franz, der ist sehr stark, und er haut seinen Freunden gern eins auf die Nase, und er beklagt sich manchmal, dass seine Freunde so harte Nasen haben, und er tut sich weh dabei."

Und nicht zu vergessen Chlodwig, das Klassenschlusslicht, Georg mit seinen sehr reichen Eltern nebst Butler und Primus Adalbert, der der Lehrerin nach dem Mund redet und als Brillenträger bedauerlicherweise bei Klassenkeile nur bedingt zum Opfer taugt.

Keine Frage, wir befinden uns in einem sympathischen Tollhaus, in dem Mädchen keine tragende Rolle spielen. Wenn sie freilich – etwa wie die blond gelockte Marie-Hedwig – auftauchen und mit Ballettschritten über den Rasen tänzeln, gelingt es ihnen in Sekundenschnelle, Nicks Gefühlshaushalt durcheinander zu bringen und ihm zu zeigen, dass die Welt vielleicht nicht nur aus Pommes Frites, Bäumeklettern und Strafarbeiten besteht.

Dass auch bei Goscinny & Sempé aus Kindern Erwachsene werden, ist nicht zu leugnen, doch wer erlebt, wie Nicks Vater an Schnupfen erkrankt und lauthals seine "Agonie" beklagt, spürt, dass Erwachsensein vielleicht nur eine Verkleidung ist – damals in den Sechzigerjahren, als Fernseher eine Seltenheit und Flugreisen ein Abenteuer waren, wie heute.

Generationen von Leserinnen und Lesern haben sich in diesem Figurenkreis sehr wohl gefühlt, und das hatte und hat in Deutschland nicht zuletzt damit zu tun, dass Hans-Georg Lenzen, Designprofessor im Ruhestand und selbst Autor des Kinderbuchdauerbrenners "Onkel Tobi", den Witz des Buches kongenial ins Deutsche übertragen hatte.

Lenzen, mittlerweile in den Achtzigern, ließ es sich nicht nehmen, auch den Dachbodenfund der neuen Nick-Geschichten zu übersetzen, und so erfreuen wir uns aufs Neue daran, dass Nebensätze mit dem verpönten "nämlich" beginnen und in diesem Familien- und Schulhofchaos nichts "cool" oder "krass", aber vieles "prima" ist. Schokoladenkuchen beispielsweise oder Pausenraufereien, von denen der bedauernswerte Aufsichtslehrer Hühnerbrüh ("le bouillon" im Original) nichts mitbekommt.

René Goscinny/Jean-Jacques Sempé: Neues vom kleinen Nick
Diogenes Verlag