"Nicht blind den Zahlen vertrauen"

Moderation: Liane von Billerbeck · 11.06.2012
Wir könnten nicht inhaltliche Entscheidungen wegdelegieren, sondern diese müssten in den Algorithmen erfasst werden, meint Albrecht Beutelsbacher, Mathematikprofessor an der Uni Gießen. Aber grundsätzlich sei die Mathematik dafür da, "komplexe Situationen beherrschbar zu machen".
Liane von Billerbeck: Gestern hat Spanien nicht nur Fußball gespielt, sondern auch angekündigt, es würde seine Banken unter den europäischen Rettungsschirm in Sicherheit bringen. Und immer, wenn dann so Zahlen kommen, bis zu 100 Milliarden Euro, dann fragt man sich, wie berechnet man das eigentlich? Gibt es Formeln, die längst viel mehr entscheiden, als wir uns vorstellen können? Ist der Einfluss solcher Algorithmen also weit größer, nicht nur auf die Finanzwelt, sondern bis in unser tägliches Verhalten hin?

Das will ich jetzt von Albrecht Beutelsbacher wissen, er ist Mathematikprofessor an der Uni Gießen und Direktor des dortigen Mathematikums. Er wirbt in Kolumnen und Sendungen so für sein Fach, die Mathematik, dass es auch Laien verstehen, was Ihm schon mehrere Preise eingebracht hat. Ich bin jetzt telefonisch mit ihm verbunden. Professor Beutelsbacher, ich grüße Sie!

Albrecht Beutelspacher: Guten Morgen!

von Billerbeck: Gleichgültig, ob es um Aktienkäufe oder den Wetterbericht geht oder wir uns beim Buchkauf im Netz weitere Bücher vorschlagen lassen, immer stehen dahinter Algorithmen. Fangen wir also erst mal mit einer Definition an, wie man das ja so macht. Algorithmus ist eine genau definierte Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems. Ist das auch Ihre Definition?

Beutelspacher: Das ist richtig. Und vorstellen kann man sich so etwas wie ein Kochrezept, das ist auch eine ziemlich genaue Vorschrift, was man mit den Zutaten machen soll, damit eine schmackhafte Speise herauskommt. Man sieht ja ganz deutlich, es gibt den Input, das sind sozusagen die Zutaten, es gibt den Output, das ist dann das fertige Gericht, und dazwischen passiert der eigentliche Algorithmus, also das Verfahren, was mache ich mit dem Zucker, mit dem Mehl, mit der Butter und so weiter.

von Billerbeck: Sie reden über Kochen, warum denken wir bei Algorithmus bloß alle immer an Mathematik?

Beutelspacher: Es ist nicht nur Mathematik, aber natürlich durch die Mathematik - Algorithmen wurden auch, formale Algorithmen zunächst, für die Mathematik gemacht. Und die Mathematik kann auch sozusagen Algorithmen beherrschen, Aussagen machen, wie effizient zum Beispiel Algorithmen sind.

von Billerbeck: Griechische Mathematiker, habe ich gelesen, die haben das schon vor langer Zeit, vor Christi Geburt versucht, Probleme mithilfe solcher Algorithmen zu lösen, aber seit wann sind die denn so richtig en vogue?

Beutelspacher: Also eigentlich kann man sagen, schon immer, nämlich jedes Rechenverfahren, gerade schriftliches Multiplizieren, ist ein Algorithmus, wo wir ein schwieriges Problem, 35.728 mal 17.502 ...

von Billerbeck: Oh Gott, und Sie wissen jetzt auch das Ergebnis?

Beutelspacher: Nein. In einfache Probleme zerlegen, sodass das jeder lösen kann. Aber richtig als Forschungsgebiet Bedeutung gewonnen haben die Algorithmen seit der Erfindung des Computers, weil ein Computer nämlich nur funktioniert, wenn es Algorithmen gibt. Sonst wäre das ein toter Haufen von Metall und Silizium. Die Algorithmen, also die Verfahren, was macht der eigentlich mit den Daten, das ist das, die Software, das ist das, was den Computer zum Leben erweckt.

von Billerbeck: Das heißt, Algorithmen sind das Futter, das die Computer intelligenter macht, aber ist diese für einen Laien so verwirrende Ansammlung von Zahlen, Plus- und Minuszeichen, größer als, Brüchen und so was alles, das kann ja eine lange Latte von Zeichen sein - wie viele Seiten kann denn so eine mathematische Formel umfassen, die einen komplizierten Algorithmus darstellt?

Beutelspacher: Genau. Das ist ja nicht nur eine Formel, sondern in der Regel viele, viele Formeln. Das kann viele hunderte, tausende Seiten umfassen. Früher hat man das immer noch ausgedruckt, dann gab es diese zehn Zentimeter hohen Papierstapel und noch mehr. Heute sind die Programme zum Teil so lang, so umfangreich, dass man das gar nicht mehr ausdrucken kann und gar nicht mehr ausdrucken möchte. Es wird dann nur noch als Daten auf einer CD oder so gespeichert.

von Billerbeck: Wenn ich im Internet ein Buch bestelle, dann werden mir immer gleich mehrere neue empfohlen, die mir auch gefallen könnten, auch das funktioniert nur über diese Algorithmen. Reicht da einer aus oder beruht dieser Tipp auf ganz vielen verschiedenen Zusammenhängen, die da gesammelt werden?

Beutelspacher: Na ja, das ist mehr oder weniger eine Definitionsfrage, ob ich das alles in einen Algorithmus zusammenfasse. Aber in der Tat ist es so, dass ganz viele Dinge, die wir heute selbstverständlich ansehen, vor 20 Jahren noch eine ausgesprochene Intelligenzleistung waren, und heute völlig selbstverständlich von Rechnern gemacht werden. Also nicht nur die Buchempfehlung, auch das Berechnen eines Fahrplans oder ein Navigationssystem. Das sind Leistungen, für die man früher wirklich Erfahrung und Kenntnis und Intelligenz brauchte und trotzdem nicht immer es richtig geschafft hat. Und heute erwarten wir das völlig selbstverständlich von so einer kleinen Maschine.

von Billerbeck: Das mathematische Formeln Dinge sammeln und sortieren, das kann man sich ja noch vorstellen, aber können die inzwischen viel mehr? Einen Text schreiben beispielsweise, der dann sich anhört, als sei er von Heine oder Tolstoi?

Beutelspacher: Das ist ja so von Anfang an eine der Herausforderungen für intelligente Computer, künstliche Intelligenz, wie man auch früher sagte, die Geistesmaschinen. Natürlich gibt es dieses Spiel schon immer. Es gibt schon von Mozart Musikstücke, die er durch Würfeln zusammengesetzt hat und die dann wie echter Mozart klingen. Also dieses rein mechanische Zusammensetzen von Texten, das geht heute. Es ist, glaube ich, noch nicht so was richtig Wichtiges, viel wichtiger ist ja die Kontrolle von Texten, Rechtschreibprogramme, die auch früher Intelligenz erforderten, heute selbstverständlich sind.

von Billerbeck: In dem neuen Roman von Robert Harris, der heißt "Angst", da steht ein Finanzgenie im Mittelpunkt, das einen Algorithmus erfunden hat, der die Angst berechnet. Ist das für Sie vorstellbar? Können mathematische Formeln auch Gefühle berechnen?

Beutelspacher: Also da muss man immer fragen, was berechnen die eigentlich? Es gibt ja auch Formeln, die Zuneigung von Menschen berechnen können sollen oder Glück berechnen können sollen. Natürlich werden da irgendwelche Parameter genommen, und damit wird irgendetwas berechnet und heraus kommt sozusagen eine Zahl und man sagt, hm, eins ist super und fünf ist nicht so gut. Man muss immer fragen, was bedeutet das, was wurde wirklich berechnet. Also wir können nicht inhaltliche Entscheidungen wegdelegieren, sondern die müssen, wenn es gut funktioniert, in den Algorithmus, von dem Algorithmus erfasst werden, in dem implementiert sein.

von Billerbeck: Denn die beiden Leute können sich dann treffen und können sich dann im Wortsinn nicht riechen und das hat der Computer vielleicht nicht mit berechnet.

Beutelspacher: Genau. Manchmal ist er nicht besser als ein Horoskop.

von Billerbeck: Auch Simulationen beruhen ja auf Algorithmen. Wir können beim Wetter anfangen und können dahin gehen, wie es wäre, wenn Griechenland den Euro nicht mehr hätte. Das ist ja bekanntlich eine sehr komplexe Fragestellung. Ist so was mit mathematischen Formeln eigentlich berechenbar?

Beutelspacher: Ich glaube, prinzipiell schon. Die Frage ist, ob wir heute schon diese enorme Komplexität mit all ihren Einflüssen, die von außen kommen, wirklich in solchen Verfahren erfassen können. Meine persönliche Meinung ist, dass wir das noch nicht können. Man sieht das ja auch daran, dass es durchaus verschiedene Szenarien gibt, die alle auf irgendwelchen Berechnungen beruhen. Aber grundsätzlich ist die Mathematik dafür da, sehr komplexe Situationen beherrschbar zu machen.

von Billerbeck: Ist es aber wünschenswert, dass man solche komplizierten und wichtigen Entscheidungen letztlich solchen Formeln überlässt?

Beutelspacher: Na ja, da können wir uns schon was wünschen. Wir haben das jetzt in den letzten Tagen durch die Schufa-Diskussion auch gemerkt. Da ist eigentlich von der technischen Seite her völlig klar, es gibt offene, öffentliche Daten, die kann ich eigentlich ausnützen, um eine Kreditwürdigkeit noch zu unterstützen oder zu bekräftigen oder zu widerlegen, und plötzlich denken wir alle und merken: Hm, so einfach, so haben wir uns das eigentlich nicht gedacht, das wollen wir vielleicht gar nicht haben.

Also insofern wird das in jeder einzelnen Frage immer wieder zu Diskussionen kommen, aber ich bin auch der Überzeugung, dass vieles für uns wirklich selbstverständlich sein wird. Also wir denken, es gibt ja immer noch Leute, die sagen, Navigationssystem ist schlecht, weil wir dann nicht mehr üben, Karten zu lesen. Das ist ein wichtiges Kulturgut, eine wichtige Kulturtechnik. Das ist schon richtig, aber wir haben uns so selbstverständlich daran gewöhnt, dass wir das gar nicht mehr missen möchten.

von Billerbeck: Ich finde eher schade, dass die Leute nicht mehr miteinander sprechen und nicht mehr nach dem Weg fragen müssen. Aber gut, das ist ein anderes Thema. Als Laie, Professor Beutelsbacher, da glaubt man ja immer gern, dass so eine Zahl oder Formel etwas Festes ist, das sich stets nachprüfen lässt. Ist das eigentlich so?

Beutelspacher: Das ist, wenn man es ganz scharf sagt, natürlich ein Aberglaube. Nicht alles, was durch eine Zahl dargestellt wird, gibt das wieder, was damit verbunden wird. Denken Sie nur an Schulnoten. Was sagt - sehr, sehr komplexes Verhalten, sehr, sehr komplexe Dinge, die sich dann in einer Zwei zum Beispiel in Deutsch oder in Mathe oder in irgendeinem Fach konzentrieren.

Und noch viel schlimmer ist, wenn wir mit diesen Noten dann anfangen zu rechnen, also eine Zwei in Englisch und eine Fünf in Mathe - kann ich da überhaupt einen Durchschnitt bilden? Das sind doch zwei völlig verschiedene Dinge. Also da muss man in jedem Fall, finde ich jedenfalls, sehr sensibel sein und genau gucken, was rechne ich da eigentlich, und nicht blind den Zahlen vertrauen.

von Billerbeck: Wo liegt denn die Schwäche von Algorithmen? Dass sie den Zufall nicht mit berechnen können?

Beutelspacher: Nein, das glaube ich nicht. Die Schwäche liegt in zwei Dingen. Das eine ist, dass die vielleicht als Verfahren nicht genau das abbilden, was wir wollen, dass wir einfach noch Vereinfachungen machen, weil wir das mathematisch noch nicht besser können.

Aber ich glaube, ein Hauptdefizit der Algorithmen liegt in ihrer Anwendung, dass wir also sie auf Situationen, auf Inputdaten anwenden, für die sie gar nicht gedacht sind. Oder die einfach falsch sind. Und das merken wir dann erst später. Wenn man zum Beispiel an solche Fahrplanauskunftssysteme denkt, die waren am Anfang auch nicht so gut. Die haben einfach nicht alles erfasst und dann irgendwelche Sonderverbindungen hatten die gar nicht auf dem Programm, sodass man dann eine schlechtere Auskunft bekommen hat als noch am Schalter.

Aber die Algorithmen sind gewachsen und man lernt aus diesen Fehlern hoffentlich und kommt dann zu besseren Ergebnissen.

von Billerbeck: Wenn ich Ihnen zuhöre, dann merke ich, dass die Anwendung von Algorithmen inzwischen komplette Lebensbereiche beherrscht, Professor Beutelsbacher. Trotzdem gibt es immer noch diese Urangst des Menschen, die Maschine, die Formel könnte die Macht übernehmen. Ist diese Angst berechtigt? Tiefes Luftholen ...

Beutelspacher: Ich glaube, die Angst, ich nehme die gar nicht mehr so richtig wahr, aber sie ist natürlich berechtigt. Genau. Ganz viele Bereiche unseres Lebens, und dies wird sicher noch zunehmen in Bereiche, die wir uns heute gar nicht, noch gar nicht vorstellen können, werden durch Verfahren, durch letztlich mathematische Verfahren beherrscht und das wird uns zu Entscheidungen zwingen oder Entscheidungen vorwegnehmen, die wir dann gar nicht mehr treffen können. Das glaube ich schon.

Ich will das jetzt im Augenblick gar nicht moralisch bewerten, aber so wird es schon kommen. Wir merken das ja, wenn wir zwanzig Jahre zurückdenken, an allem Möglichen. Was machen wir heute mit dem Computer? Einkaufen, Auskünfte, alle möglichen Dinge, Ratschläge, und ich glaube, habe nicht den Eindruck, dass dieses Tempo in den nächsten zwanzig Jahren kleiner werden wird.

von Billerbeck: Das sagt Professor Albrecht Beutelsbacher über die alltägliche Macht von Algorithmen, mathematischen Formeln also. Vielen Dank!

Beutelspacher: Bitteschön!

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