Transparentes Gehalt und flache Hierarchien

Kann "New Work" wirklich funktionieren?

06:36 Minuten
Grafik von Personen, die am Computer arbeiten.
Selbstbestimmt arbeiten und auch noch Spaß haben, das vermittelt "New Work". Aber was ist wirklich dran, an der schönen neuen Arbeitswelt? © imago / Ikon Images /Stuart / Kinlough
Von Vivien Leue · 29.03.2022
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Mit „New Work“ versuchen moderne Unternehmen, Hierarchien abzuflachen. Die Gehälter der Mitarbeitenden sind bei „New Pay“ kein Tabu mehr. Wie funktioniert diese neue Art von Arbeits- und Vergütungsorganisation?
"New Work" – wer den Begriff mal im Internet sucht, stößt auf Bilder fröhlicher Menschen auf bunten Sofas mit Laptops auf dem Schoß. Hey, wir arbeiten selbstbestimmt und haben Spaß – so die Botschaft.
Auch der Internet-Telefonie-Anbieter "Sipgate" präsentiert sich in seinem Image-Video ähnlich. Ist das in echt auch so? Sipgate-Mitbegründer und -Chef Tim Mois empfängt mich coronabedingt draußen, vor dem großen Hinterhofgebäude in Düsseldorf, in dem seine knapp 300 Mitarbeitenden auf zwei Etagen Telefonie-Software entwickeln.

„Angefangen haben wir 2004, ein typisches Start-up mit einer Handvoll Mitarbeiter.“
Schnell wurde die Firma erfolgreich:

„Und wir sind dann vor eine Wand gelaufen, organisatorisch. Weil unsere Jeder-weiß-alles-und-jeder-macht-überall-mit-Idee aus der Start-up-Zeit ist da tatsächlich wirklich kaputtgegangen. Es war einfach zu groß.“

Das Unternehmen brauchte eine Struktur. Firmengründer Tim Mois war allerdings klar: Die klassische Hierarchie-Pyramide passt nicht. Aber agile, also flexible Strukturen, mit eigenverantwortlichen Teams – "New Work" – das könnte klappen.

Hört beim Geld der Spaß auf?

„Wir haben tatsächlich von einem auf den anderen Tag angefangen, das alles umzukrempeln.“
Seit nun elf Jahren arbeiten die Teams des Softwareanbieters eigenverantwortlich an ihren Produkten, geben sich untereinander Feedback, organisieren sich selbst. Urlaube, freie Tage oder Fortbildungen werden im Team abgesprochen – kein Chef muss sein OK geben.
Aber beim Geld hört der Spaß dann auf, oder?
„Bei der Einführung dieser agilen Organisation haben wir bald festgestellt, dass tatsächlich ein gravierendes Problem ist: Wie werden Gehälter gezahlt, wie ergeben sie sich? Wenn man erwartet, dass ein Team vertrauensvoll zusammenarbeitet, dann ist es sehr hinderlich, wenn das Gehalt dem im Wege steht.“
Deshalb gilt in seinem Unternehmen: Gleiches Geld für vergleichbare Arbeit. Dabei orientieren sich die Vergütungen an den marktüblichen Gehältern. Verändern sie sich branchenweit nach oben, zahlt auch Tim Mois mehr.

Die Fortschreibung von "New Work"

Für Unternehmensberaterin Nadine Nobile sind solche Gehalts- und Entlohnungsstrukturen – im Fachjargon "New Pay" genannt – die konsequente Fortschreibung von "New Work".
„Woran erkenne ich, dass es der Organisation auch ernst ist, in Zukunft agiler, mehr auf Augenhöhe, hierarchie-übergreifender zu arbeiten? Beim Thema Gehalt, da geht es um was. Das ist nicht einfach nur: Ach ja, wir haben jetzt hier einen neuen Raum, den wir gemeinsam einrichten können.“
Sie berät Firmen auf ihrem Weg hin zu solchen sogenannten „Open Spaces“, zu agilen Teamstrukturen und transparenten Gehaltstabellen.
Themen rund ums Verhandeln seien noch sehr stark in unserer Kultur verankert und bestimmten auch ein Stück weit das Gehalt. Die Frage sei nur: In welchen Jobs ist das Verhandlungsgeschick denn eigentlich auch als Kompetenz überhaupt relevant?
Deshalb sollten Gehälter nicht in Hinterzimmern geheimnisvoll ausgekungelt, sondern nachvollziehbar mitgestaltet werden, meint Unternehmsberaterin Nadine Nobile.
„In jedem Workshop, den wir mit Mitarbeitenden machen, kommt ganz früh die Verantwortungsübernahme für das große Ganze. Und dann geht es nicht mehr nur um mein Gehalt, sondern es geht um das Gehaltssystem für die Gesamtorganisation.“
Klappt das auch in tarifgebundenen, eher starren Arbeitswelten?

Und wie läuft das im Amt?

Nachfrage bei einem Verwaltungschef. Stefan Kraus leitet das Amt für Technische Dienste der Stadt Herrenberg in Baden-Württemberg, also Bauhof, Elektrik und Gartenbau der Stadt.
„Wir wollten einen anderen Weg gehen. Ich habe einfach gemerkt, dass die Leute gern wollen. Aber irgendwie immer bisschen limitiert sind. Ein Vorgesetzter, der es eigentlich machen sollte, steht nicht in meiner Stellenbeschreibung. Ich wusste schon immer, die Leute haben Potenzial, aber irgendwie kriegen wir das nicht gehoben.“
Also krempelte er 2018 seine Behörde um: auf agile Strukturen, "New Work". Die Mitarbeiter organisieren sich jetzt selbst, in allen Belangen.

„Zum Beispiel, ich bin bei keinem Einstellungsgespräch mehr dabei, das machen die alles alleine.“

Diese neuen Aufgaben werden natürlich auch bezahlt. Amtsleiter Kraus hat dafür innerhalb des starren Tarifsystems des öffentlichen Dienstes einen Weg gefunden.
„Wir hatten einen Meister, der in Rente ging, und jetzt verteilen wir das Meistergehalt auf die Menschen, die Führung übernehmen.“
Und die wiederum geben Teile dieses Bonus' manchmal auch an ihre Mitarbeiter ab – damit alle profitieren. Aber:
„Da sind auch welche gegangen, das ist nicht heile Welt für alle.“
Zwei Mitarbeiter hielten die immer wieder neuen Absprachen und Überlegungen, wie welche Aufgaben angegangen werden, nicht aus, erzählt Stefan Kraus. Die Mitarbeiter allerdings, die geblieben sind, scheinen zufriedener und glücklicher im Job. Der Krankenstand ist in Kraus' Abteilung von zwanzig auf sechs Prozent gesunken.

Ist das „Neue Arbeiten“ auch zukunftsfähig?

Patrick Hempel arbeitet bei Sipgate in Düsseldorf als Programmierer und kennt beide Welten: die klassische, alte Hierarchie-Pyramide und "New Work". Er würde nie mehr zurück wollen.
„Ich finde es halt sehr gut, dass der Mensch an sich oder der Arbeitnehmer an sich im Vordergrund steht. Also wir wollen glückliche Mitarbeiter haben, damit wir auch gute Produkte bauen können, damit wir auch Gewinn machen können.“

Und trotzdem sei Arbeit nur ein Teil des Lebens. Deshalb ist es in seiner Firma völlig ok, wenn er mal um 15 Uhr seine Kinder von der Kita abhole.

„Man ist halt nicht nur der Mensch, der da sitzt und seine acht Stunden abarbeitet, sondern es gibt darum ja noch ganz viele andere Dinge. Und das hat sehr viel mit Wertschätzung zu tun.“

Das ist wohl der Kern von "New Work" und "New Pay". Es geht nicht nur um Arbeit und Geld. Es geht auch um die Menschen, die die Arbeit machen. Ihre Bedürfnisse und Ideen werden ernstgenommen. Arbeitsmarktexperten halten "New Work" deshalb für mehr als nur einen Trend. Denn Firmen, die die neue Arbeitswelt verstehen und leben, dürften es künftig einfacher haben, stark umworbene Fachkräfte für sich zu begeistern.

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