Neuwahl in Israel

Der Unmut über die Strengreligiösen

22:08 Minuten
Orthodoxe Juden beten an der Klagemauer in Jerusalem
Die Rolle der ultraorthodoxen Israelis beherrscht inzwischen zunehmend die öffentliche Debatte. © picture alliance / Winfried Rothermel
Von Tim Aßmann, Benjamin Hammer, Alexander Brakel  · 16.09.2019
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Premier Benjamin Netanjahu steht unter Druck. Nach den Wahlen im Mai konnte er keine Koalition bilden, weshalb die Israelis morgen zur Neuwahl gerufen sind. Netanjahu muss gewinnen, sonst landet er voraussichtlich im Gefängnis. Wegen Korruption.
Premierminister Benjamin Netanjahu, der seit zehn Jahren die Geschicke Israels leitet, hat zu Recht Angst vor dem Gefängnis, meint Alexander Brakel von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Jerusalem:
"Netanjahu steht in drei schweren Fällen unter Korruptionsverdacht und der Generalstaatsanwalt hat angekündigt, ihn Anfang Oktober zu verhören. Sollte es dann zur Anklage und zur Verurteilung kommen, dann wäre eine Gefängnisstrafe durchaus denkbar. Sollte er die Wahl gewinnen, dann könnte er versuchen, sich Straffreiheit zu sichern, zum Beispiel indem er durchsetzt, dass seine Immunität nicht aufgehoben wird. Das wäre aber ein empfindlicher Schlag gegen die Rechtsstaatlichkeit Israels."

Ultraorthodoxe Israelis bestimmen den Wahlkampf

Dies ist nicht der einzige Skandal, der die Neuwahlen in Israel begleitet.
Israels Premierminister Benjamin Netanjahu
Steht unter Druck: Israels Premierminister Benjamin Netanjahu.© Ilia Yefimovich / dpa
Netanjahu kann zwar immer noch mit seiner harten Sicherheitspolitik punkten, aber ein anderes Thema beherrscht inzwischen zunehmend die öffentliche Debatte: die Rolle der Strengreligiösen in Israel. Insbesondere die russischstämmigen Juden wehren sich gegen deren Einfluss und haben einen prominenten Vertreter: Avigdor Lieberman. Eine ältere Dame vor einem Einkaufszentrum, russisch-stämmig, weiß genau, wo sie morgen ihr Kreuz machen wird.
"Ich werde ganz sicher Lieberman unterstützen. Er spricht Dinge an, die für mich und meinen Mann wichtig sind, zum Beispiel wollen wir in einem freien Land und nicht in einem Religionsstaat leben. Also wir wollen nicht, dass die Strengreligiösen Druck auf uns ausüben und uns vorschreiben, was wir essen sollen und wie wir unsere Freizeit zu gestalten haben."
Israelis laufen an einem Wahlplakat des Vertreters der russischstämmigen Juden, Avigdor Lieberman, vorbei, aufgenommen im September 2019
Vertritt die russisch-stämmige Gemeinde in Israel: Avigdor Lieberman.© imago images / UPI Photo
Lieberman wird auch von vielen säkularen Juden unterstützt, die nicht zur russisch-stämmigen Gemeinde gehören. Denn die ultraorthodoxen Juden sind vielen Israelis inzwischen ein Dorn im Auge. 1948, als Israel gegründet wurde, bekamen sie diverse Privilegien und Zugeständnisse. Damals machten sie aber nur ein Prozent der Bevölkerung aus. Heute sind es zwölf Prozent, Tendenz steigend, weil die Geburtenrate der Strengreligiösen hoch ist: Familien mit zehn und mehr Kindern sind keine Seltenheit.
Trotzdem bilden sie nach wie vor eine Minderheit, verhalten sich aber aus Sicht vieler, als hätten sie die Mehrheit.
"Der Ärger ist groß", sagt Alexander Brakel, "denn viele Israelis haben das Gefühl, in Geiselhaft genommen zu werden von einer doch relativ kleinen Gruppe der Bevölkerung."

"Keine Regierung mit denen, die noch auf den Messias warten"

Den Umfragen zufolge könnte Lieberman als Königsmacher fungieren. Wenn Likud und das Bündnis Blau-Weiß von Ex-Armeechef und Netanjahu-Herausforderer Benny Gantz keine Parlamentsmehrheit zustande bekommen, dann schlägt die Stunde Liebermans, der schon jetzt für eine Einheitsregierung wirbt.
"Zuerst müssen wir den Wahlkampf hinter uns bringen, dann muss eine nationale, liberale Regierung errichtet werden. Eine Einheitsregierung ohne Strengreligiöse und ohne diejenigen, die noch auf den Messias warten. Danach können wir anfangen, Posten zu verteilen."
Benny Gantz, Spitzenkandidat des Bündnisses Blau-Weiß, grüßt Unterstützer seiner Partei
Ex-Armeechef und Netanjahu-Herausforderer Benny Gantz ist Spitzenkandidat des Bündnisses Blau-Weiß.© picture alliance / newscom / Debbie Hill
Aber auch die, die noch auf den Messias warten, sind nicht untätig und werben für die religiöse Schas-Partei, die keineswegs als Splitterpartei ins Rennen geht. Die Wahlbeteiligung der Ultraorthodoxen liegt bei über 90 Prozent.
Dass das Thema Religion und Staat so viel Raum einnimmt, ist für Benjamin Netanjahu zum Problem geworden. Er braucht die strengreligiösen Parteien für eine künftige Regierungskoalition. Deshalb versucht er mit allen Mitteln, Wähler anderer rechter Parteien für sich zu gewinnen, und kündigte vergangene Woche die Annexion jüdischer Siedlungen im Westjordanland an.

Arabische Israelis ohne Lobby

Unter den arabischen Israelis – immerhin 20 Prozent der Bevölkerung Israels – ist das Misstrauen riesig, weshalb diese Gruppe sowieso nur die eigenen, also die arabischen Parteien wählt - wenn überhaupt. Bei der letzten Wahl blieb jeder zweite Wahlberechtigte zu Hause. Da der Einfluss der arabischen Parteien gering und eine Koalition bisher nicht denkbar ist, spielen die arabischen Israelis im Parlament eine untergeordnete Rolle. Die Ankündigung von Annexionen im Westjordanland seitens Netanjahus nimmt nun auch den kooperationsbereiten arabischen Politikern den Wind aus den Segeln. Die arabische Bevölkerung ist vor den Kopf gestoßen.
Sollte Netanjahu nach der Wahl tatsächlich die Annexion wahr machen, dann würde das die Zwei-Staaten-Lösung ad absurdum führen.
"Bis jetzt ist eine Zwei-Staaten-Lösung theoretisch möglich", sagt Alexander Brakel. Die Voraussetzung für eine lebensfähigen, palästinensischen Staat sind vorhanden, die Frage ist aber, gibt es den politischen Willen dazu? Diesen politischen Willen gab es in den vergangenen 52 Jahren, also in der Zeit der israelischen Besatzung im Westjordanland, nur ganz, ganz selten. Und heute gibt es ihn erkennbar nicht. Und ich gehe davon aus, dass innerhalb der nächsten fünf Jahre die Zwei-Staaten-Lösung Geschichte sein wird."

Alexander Brakel ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Israel. Ihren Sitz hat die Stiftung in Jerusalem, wo religiöses Leben eine größere Rolle spielt als zum Beispiel in Tel Aviv. Er berichtet in der "Weltzeit" ausführlich über die Situation vor der Neuwahl.


© Marie-Lisa Noltenius / Konrad-Adenauer-Stiftung
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