Neuschwanstein ist nicht Bayern

Von Henning Biedermann |
Neben gutem Bier und einer großartigen Landschaft hat Bayern noch andere Vorzüge: Kein Bundesland hat mehr Denkmäler zu bieten. Ein Erfolg von hundert Jahren bayerischer Denkmalpflege. Doch der Zustand des Jubilars ist kritisch. Gesetzesänderungen, Finanz- und Personalkürzungen haben ihm in den letzten Jahren schwer zugesetzt. Und während Neuschwanstein glänzt, gehen immer mehr Zeugnisse bürgerlicher und bäuerlicher Kultur verloren.
Auf einem Hügel im Voralpenland. Blaue Berge markieren den Horizont, davor liegen Äcker, Wiesen und ein kleines Dorf. Schwabsoien im Pfaffenwinkel. Eine heile bayerische Bilderbuchlandschaft. Doch dieser erste Eindruck trügt.

Unten im Ort gähnt neben der hochmodernen Gemeindeverwaltung eine Baulücke: Hier stand mal der schmucke Goris-Bauernhof. Eines der letzten Gebäude, das noch weitgehend unverändert davon erzählte, wie Schwabsoien nach dem Dorfbrand von 1823 wieder aufgebaut wurde. Jetzt ist es weg. Einfach abgerissen. Bayern ist wieder um ein Baudenkmal ärmer.

Und Bayerns oberster Denkmalpfleger, Generalkonservator Egon Johannes Greipl, kann gar nicht oft genug betonen, dass Schwabsoien kein Einzelfall ist.

"Wir haben ja nicht wenige Ortschaften, wo es außer der Kirche und vielleicht noch dem Pfarrhaus kein einziges Baudenkmal mehr gibt. Gebaute Geschichte, gerade auf dem Land, ist in den letzten Jahren doch in erheblichem Umfang verschwunden."

Ist es wirklich so schlimm? Der Kulturstaat Bayern glänzt heute immerhin mit 120.000 Baudenkmälern! So viele wie in keinem anderen Bundesland! Doch dieser Schatz wurde von der Denkmalpflege in jahrzehntelanger Arbeit hart erkämpft und muss täglich neu verteidigt werden.

Natürlich stehen nicht die großen repräsentativen Baudenkmäler auf dem Spiel. Aber zur bayerischen Geschichte gehört eben mehr als Schloss Neuschwanstein. Was vom Leben und Alltag der Vorfahren erzählt, sind kleine Dorfkirchen, Bürgerhäuser, Gasthöfe, Verkehrs- und Industriebauten! Und immer mehr davon geht durch Umbau oder Abriss verloren.

Die ersten Ergebnisse der aktuell laufenden Revision der Denkmalliste summieren sich mehr zu einer Nachdenk-mal-Liste:

"Die finanzielle Auszehrung und die Änderungen im Gesetz haben dazu geführt, dass wir gerade im Bereich der bäuerlichen Denkmäler ganz erhebliche Verluste haben. Die bewegen sich im Bereich zwischen zehn und 30 Prozent in den Landkreisen, die wir bis jetzt schon der Revision unterzogen haben."

Hochgerechnet auf ganz Bayern würde das einen Verlust von mehreren tausend geschützten Bauwerken in nur drei Jahrzehnten bedeuten! Ein Resultat radikaler Kürzungen, die der Freistaat in den letzten 18 Jahren an seiner Denkmalpflege vollzog. Personal wurde gestrichen, Dienststellen geschlossen. Die Baudenkmalpflege verlor fast 90 Prozent ihrer operativen Mittel. Heute ist man immerhin wieder bei der Hälfte dessen angekommen, was im Jahr 1990 zur Verfügung stand: elf Millionen Euro. Ein kleines Geschenk zum Jubiläumsjahr. Das Landesamt für Denkmalpflege feiert seinen Hundersten, und der Generalkonservator hat Gelegenheit, die Politiker in Festansprachen zu ermahnen.

"Es geht die Zukunft nicht ohne die Vergangenheit. Wir kriegen einen schiefen Blick, wenn wir nur nach vorne schauen und nicht gelegentlich zurück, um uns zu orientieren. Wie sollte man denn wissen, wo man steht, wenn man nicht zurückschaut?"

Die Vergangenheit für die Zukunft schützen - diesen Gedanken hatte schon Anfang des 19. Jahrhunderts König Ludwig der Erste. Ihm verdankt Bayern die Anfänge der Denkmalpflege angesichts einer beispiellosen Zerstörung von Kulturgütern durch Säkularisation und Industrialisierung.

Verstöße gegen die königlichen Erlasse wurden zum Teil hart geahndet. Als der Regensburger Magistrat unerlaubt ein mittelalterliches Stadttor abreißen ließ, verlangte Ludwig den Wiederaufbau. Und zwar mit dem Geld jener Ratsherren, die für den Abriss verantwortlich waren.

Ludwigs Nachfolger waren nicht mehr so durchsetzungsfähig. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verloren viele bayerische Städte ihre Verteidigungsanlagen mit der immer gleichen Begründung: Die alten Mauern seien ein Hindernis für die ökonomische Entwicklung. Und? Wohin fahren die Touristen heute? Nach Nürnberg oder nach Rothenburg. Wo die Stadtmauern noch stehen. Denkmalschutz ist eben ein langfristiger Wirtschaftsfaktor.

Die Denkmalpflege des 19. Jahrhunderts ging mit gebauter Geschichte noch recht unbefangen um. Da vollendete man einfach den Regensburger Dom oder vernichtete im Bemühen um Stilreinheit das gesamte barocke Mobiliar mittelalterlicher Kirchen. Der Zeugniswert verschiedener Epochen, die an einem Gebäude ihre Spuren hinterlassen hatten, spielte im Gegensatz zu heute keine Rolle.

"Wir sagen heute natürlich ganz anderes. Wir sagen: Es kommt uns nicht so sehr auf eine perfekte Form an, sondern auf den Zeugniswert. Und da ist eben etwas, was Fragment ist, ein besonders bedeutendes Zeugnis. Eben weil es Fragment ist. Uns kommt es auch nicht drauf an, die älteste Schicht als die Wichtigste herauszukratzen aus den vielen Schichten der Jahrhunderte.

Wir sagen: Jede Schicht ist Zeugnis der Tätigkeit einer Zeit. Zeugnis der Tätigkeit unserer Vorfahren. Deswegen kommt es uns darauf an, die gesamte Überlieferung zu erhalten und nicht etwa zu korrigieren. Wenn Sie ins Archiv gehen und sich eine Urkunde geben lassen, da kommt ja auch keiner auf die Idee, an der Urkunde herumzuradieren und Fehler auszubessern, sondern man sagt: Es ist ein authentisches Zeugnis aus dieser Zeit. Und genauso ist es mit den Baudenkmälern auch, mit all ihren Fehlern, mit all ihren Schichten, mit all den Dingen, die uns auch nicht so gefallen, sind sie authentische Zeugnisse."

Dass die Aufgabe der Denkmalpflege im Bewahren und nicht im Hinzufügen besteht, wurde nach der Gründung des Generalkonservatoriums im Jahr 1908 zum neuen Leitbild.

Das verhinderte jedoch nicht, dass die Nationalsozialisten 25 Jahre später Nürnberg und seine Kaiserburg zur Kulisse der Reichsparteitage umbauten. Während überall in der Nürnberger Altstadt Fachwerk als "besonders deutsches Gestaltungselement" freigelegt oder willkürlich ergänzt wurde, war für andere bayerische Städte die Vernichtung historischer Bausubstanz in großem Stil geplant. Weite Teile von Regensburg, Würzburg oder Memmingen wären durch NS-Baupläne zerstört worden:

"Altes muß fallen, um Neuem Platz zu schaffen."

In München stand die hundertjährige Matthäuskirche am Sendlinger Tor dem Umbau zur "Hauptstadt der Bewegung" im Weg. 1933 war der klassizistische Bau erst im Inneren restauriert worden. 1938 riss man ihn ab. Das Landesamt für Denkmalpflege bezog dazu keine Stellung. Ebenso wenig zum Abriss der Hauptsynagoge im Juni desselben Jahres oder zu den Verwüstungen der Reichspogromnacht.

Größtes Verdienst der Denkmalpfleger in dieser Zeit bleibt wohl die Rettung oder wenigstens die Dokumentation einzelner Kunstdenkmäler, bevor das Dritte Reich in Schutt und Asche unterging.

Die NS-Politik und die Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs sorgten für entsetzliche Verluste an einmaligen Bauwerken. Doch die Zerstörung, die danach einsetzte, übertraf alles bis dahin Geschehene.

"Der Europarat hat festgestellt, dass in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren nach 1945 mehr historische Bausubstanz zerstört worden ist als während des gesamten Zweiten Weltkrieges."

Als das Bayerische Fernsehen 1979 diese Bestandsaufnahme mitteilte, war es zum Beispiel für die Passauer Ilzstadt bereits zu spät. In seiner 850-jährigen Geschichte war dieser Stadtteil nie abgebrannt. Er stand nur öfter mal unter Hochwasser. Damit lebte man bis in die 60er Jahre.

Dann wurde die Ilzstadt gegen Überflutung gesichert und "saniert". Das hieß: Abbruch von 48 Häusern. Was folgte, waren viel Beton, Fassaden, die das verschwundene Mittelalter nachäfften, und eine Umgehungsstraße, auf der heute täglich 30.000 Fahrzeuge vorbeirauschen. Ein lebendiger Stadtteil mutierte zur toten Schlafstadt.

"Der Verlust der Ilzstadt von Passau war mit einer der Auslöser für das schnelle Zustandekommen des Denkmalschutzgesetzes 1973. Es gibt andere Dinge noch, wie das große Kaufhaus Horten mitten in der Altstadt von Regensburg. Das ist auch so ein Punkt gewesen, der die Gemüter dann wirklich so auf die Palme gebracht hat, dass man gesagt hat: So was darf nicht mehr passieren. Also, es muss ein Gesetz her."

Als das Gesetz dann am 1. Oktober 1973 in Kraft trat, galt es europaweit als vorbildlich. Es regelte nicht nur den Schutz aller Denkmäler, sondern auch die Finanzierung der denkmalpflegerischen Arbeit und die Entschädigung von Eigentümern, in deren Besitzrechte der Staat eingriff.

Natürlich sorgte das Gesetz für erheblichen Frust - sowohl bei Bauherren, die ihr Haus nun nicht mehr nach eigenem Gutdünken zeitgemäß "verschönern" durften, als auch bei Lokalpolitikern, die sich in den Ausbauplänen ihrer Gemeinden gegängelt sahen. Wie zum Beispiel der Bürgermeister von Markt Schwaben, Wilhelm Haller, im Jahr 1979:

"Meine Ansicht ist die, man sollte denkmalpflegerische Aspekte dann auch zurücksetzen, wenn eben zeitgerechte und zukunftsorientierte Maßnahmen dies notwendig machen."

Und deshalb schmückt das Zentrum von Markt Schwaben heute nicht mehr das alte Rathaus aus dem 19. Jahrhundert, sondern eine asphaltierte Freifläche, unter der ein Parkhaus liegt. Diese "zukunftsorientierte" Maßnahme entstand nach dem Siegerentwurf eines städtebaulichen Ideenwettbewerbs.

Trotz solcher Niederlagen feierte die bayerische Denkmalpflege bis 1990 zwei goldene Jahrzehnte. Dann verübte die Politik einen Anschlag auf den Kern des Denkmalschutzgesetzes: Seitdem muss das Einvernehmen zwischen dem Landesamt für Denkmalpflege und den Unteren Denkmalschutzbehörden in strittigen Fällen nicht mehr hergestellt werden. Egal ob Abriss, Umbau oder Neubau - die obersten Denkmalpfleger können ein Vorhaben zwar ablehnen, sind aber letztlich machtlos, wenn das zuständige Landratsamt oder eine Stadtverwaltung die Genehmigung erteilt.

Die gelegentlichen Proteste der Denkmalpfleger werden gerne populistisch gekontert: Man könne schließlich nicht ganz Bayern unter die Käseglocke des Denkmalschutzes stellen. Dabei liegt die Anzahl der Baudenkmäler im Freistaat gerade mal bei drei Prozent aller baulichen Anlagen. Aber diese drei Prozent haben enorme ökonomische Effekte.

"Warum fahren denn die Fremden in vielen Millionen nach Bayern? Die fahren ja nicht nach Bayern, weil sie irgendeine besonders gut ausgebaute Autobahn sehen wollen. Sondern die wollen die Landschaft sehen und die Baudenkmäler und Ortsbilder. Um diese Werte geht es. Wenn diese Werte weg sind: Landschaft, Ortsbilder, Baudenkmäler, dann würde Bayern keinen Menschen mehr interessieren, dann würde keiner herfahren, um hier Geld auszugeben."

Und - man kann es in diesem Zusammenhang gar nicht oft genug betonen - Denkmalschutz ist ein hervorragendes Programm zur Mittelstandsförderung. Zahlreiche Handwerksbetriebe leben von der staatlichen Denkmalpflege.

Durch Bayern verläuft auch das größte archäologische Denkmal Deutschlands: der Limes. Ein kulturelles Aushängeschild des Freistaats, vor allem seit der römische Grenzwall vor drei Jahren zum Weltkulturerbe erhoben wurde. Dessen Schutz und Pflege lässt man sich gerne etwas kosten. Doch für die anderen 42.000 Bodendenkmäler stehen der Denkmalpflege pro Jahr nur eine halbe Million an operativen Mitteln und zu wenig Personal zur Verfügung.

"Hier kämpfen und arbeiten wir schon am Rand des Möglichen und am Rand des Vertretbaren. Wir tun uns teilweise sehr schwer, weil wir vier von acht Dienststellen schließen mussten. Das heißt, der dezentrale Ansatz, der seit hundert Jahren entwickelt war, ist zum Teil wieder aufgegeben worden. Die Wege werden weiter, der Kontakt mit den ehrenamtlichen Mitarbeitern schwieriger."

Deshalb laufen die Inspektionen von Baugruben auf antike Funde unter noch größerem Zeitdruck ab. Erforderliche Notgrabungen bezahlen zwar die Bauherren und belasten so nicht den Etat der Bodendenkmalpflege, doch für die schleichenden Zerstörungen von archäologischen Denkmälern durch die Landwirtschaft wird niemand zur Kasse gebeten.

Um ein Merowinger-Grab auf irgendeinem Acker zu retten, müsste die Bodendenkmalpflege dem Bauern Entschädigung für eine Flächenstilllegung bieten oder präventiv graben. Für beides fehlt das Geld.

Eigentlich möchte man auch gar nicht graben, denn jedes archäologische Denkmal, das unversehrt in der Erde liegt, ist ein Erfolg. Jede Ausgrabung bedeutet in der Regel seinen totalen Verlust.

Es gibt heute auch andere Untersuchungsmöglichkeiten, als den Spaten anzusetzen. Mit Magnetometern gelingen detaillierte Aufnahmen all dessen, was sich an 500.000 Jahren Siedlungsgeschichte in Bayerns Boden versteckt.

Durch die Luftbildarchäologie machte man in den letzten Jahrzehnten bedeutende Funde in Regionen, die bis dahin als unbesiedelt galten. Doch wegen der fehlenden Mittel mussten die Flugstunden reduziert werden. Pro Jahr bleiben so circa 500 Bodendenkmäler unentdeckt. Sie werden umgepflügt, oder weggebaggert.

Angesichts jahrzehntelanger Sparhaushalte stellt sich die ketzerische Frage, ob es ein bayerisches Landesamt für Denkmalpflege in hundert Jahren noch geben wird. Egon Johannes Greipl, Bayerischer Generalkonservator, gibt sich da optimistisch:

"Selbstverständlich! Ich sag' ja, wer lange kämpft, lebt lange!"

Es bleibt die schwache Hoffnung, dass mit dem Jubiläumsjahr eine deutliche Trendwende einsetzt. Ein weiterer Rückzug des Staates aus dem Denkmalschutz hätte verheerende Folgen. Es kann nicht allein die Aufgabe von Bürgern, Kommunen und Kirchen sein, das historische Erbe für kommende Generationen zu bewahren - in Bayern und anderswo.