Neurowissenschaft

Erkenntnisse über das Gehirn der Pubertiere

07:26 Minuten
Ein wütender Junge, der in die Kamera guckt. Im Hintergrund sind die Eltern zu sehen.
Die Eltern? Einfach nur peinlich! Struktur und Funktion des sozialen Gehirns verändern sich in der Pubertät. © imago images / Westend61
Von Lydia Heller · 09.05.2019
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Warum sagen Teenager so oft "Ist doch egal"? Sarah-Jayne Blakemore forscht über Heranwachsende. Die britische Neurowissenschaftlerin hat Veränderungen im Gehirn Pubertierender als Ursache für deren typisches Verhalten ausgemacht.
Im April 2014 führt die Jugend-Theatergruppe "Company Three" in der Londoner Royal Albert Hall das Stück "Brainstorm" auf: "Du sagst zu mir: Dein Gehirn ist kaputt. Es schrumpft oder sowas."
"Brainstorm" basiert wesentlich auf der Arbeit von Sarah-Jayne Blakemore, Professorin für kognitive Neurowissenschaften am University College London. Seit rund 15 Jahren erforscht sie die Vorgänge im Gehirn in der Zeit der Adoleszenz. Und – erklärt sie in einem Interview mit der Jacobs-Foundation:
"Ich habe immer wieder gemerkt, dass Heranwachsende wie kaum eine andere Gruppe von der Gesellschaft dämonisiert werden. Wenn ich zum Beispiel über meine Arbeit zum Teenager-Gehirn etwas twittere, kommen immer Reaktionen wie: 'Oh – was? Teenager haben ein Gehirn?'"

Besondere Phase der Gehirnentwicklung

Ja. Sie haben eins, das ist die gute Nachricht, und es ist auch nicht kaputt. Aber: Das Gehirn macht zwischen Kindheit und Erwachsenenalter tatsächlich eine besondere Phase durch.

Lydia: "Es ist schon sechs – sag mal, wo steckst du denn?"
Arne: "Mauerpark."
Lydia: "Ah, okay – aber warum sagst du nicht Bescheid? Mit wem bist du denn da?"
Arne: "Ist doch egal."
Lydia: "Naja, jemand aus deiner Klasse?"
Arne: "Nee, kennst du nicht."

Dass Teenager zum Beispiel öfter mal mit "Ist doch egal" und "Kennst du nicht" unterwegs sind, könnte daran liegen, dass das Gesichtserinnerungsvermögen etwa in der Mitte der Pubertät beeinträchtigt ist.
"Du bist nicht witzig, Mama", sagt Arne.
Im Alter von etwa 16 Jahren erreicht es dann wieder das Niveau von vor der Pubertät. Verschiedene jüngere Studien haben über dieses Phänomen berichtet, schreibt Sarah-Jayne Blakemore, die Gründe sind noch unbekannt.
"Das ist peinlich", kommentiert Arne.
Wahrscheinlicher ist tatsächlich eine andere Erklärung: Die Gesellschaft von Gleichaltrigen gewinnt in der Pubertät bekanntlich an Bedeutung, Eltern werden als peinlich empfunden. Und – wie auch die verminderte Fähigkeit, sich an Gesichter zu erinnern – könnte das auf Veränderungen im Gehirn zurückzuführen sein.
"In unseren Forschungen haben wir herausgefunden", so Sarah-Jayne Blakemore, "dass sich viele verschiedene Aspekte der sozialen Kognition während der Adoleszenz verändern – die Struktur und Funktion des sozialen Gehirns gehören dazu."
Das "soziale Gehirn" ist ein Netzwerk von Hirnarealen. Es steuert unter anderem unser Vermögen, die Absichten und Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen, ihre Gedanken und mentalen Zustände einzuschätzen und Verständnis für ihre Sichtweisen aufzubringen. "Mentalisierung" nennen Forscher diese Fähigkeit. Sie entwickelt sich in den ersten sechs Lebensjahren – und bis vor Kurzem dachte man, damit sei Entwicklung abgeschlossen.
Arne wundert sich über Fiet: "Erst schreibt er mich an. Dann frage ich, was willst du? Dann schreibt er: Ich will nichts mit dir zu tun haben. Dann frag ich: Warum schreibst du mich dann an? Dann blockiert er mich..."

Ein Regal-Experiment mit zwei Varianten

Sarah-Jayne Blakemore dagegen berichtet in ihrem Buch über das Teenager-Gehirn von einem Experiment, in dem sie Jugendliche und Erwachsene bat, Objekte in einem Regal umzuordnen. Und zwar nach den Anweisungen einer sogenannten Direktorin, die selbst einige dieser Objekte nicht sehen konnte.
Um die Aufgabe richtig zu lösen, mussten die Testpersonen also die Perspektive der Direktorin berücksichtigen. In einer zweiten Variante sollten sie die Objekte ohne Direktorin, aber nach einer vorher festgelegten Regel umstellen.
"Dabei stellte sich heraus, dass die Leistung sich zwischen der späten Kindheit und der mittleren Adoleszenz verbessert. Danach aber spielt sich etwas Faszinierendes ab: Während sich in Bezug auf die Aufgabe, sich an eine Regel zu erinnern, mit fortschreitendem Alter keine weitere Verbesserung einstellte, nahm die Zahl der richtigen Versuche bei der ursprünglichen Variante zwischen später Adoleszenz und Erwachsenenalter noch zu."
Was zugleich bedeuten würde: Die Fähigkeit zur Mentalisierung ist auch in der späten Pubertät noch form- und beeinflussbar.
"Das ist wirklich interessant", erläutert Sarah-Jayne Blakemore, "weil es das exakte Gegenteil dessen ist, was man auf Basis der Theorien über die Hirn-Plastizität erwarten würde – nach denen es beim Lernen besser ist, wenn man früh damit beginnt. Wir dagegen haben gefunden, dass hohe kognitive Fähigkeiten, wie logisches Denken, effektiver in der späten Adoleszenz angeeignet werden."

Lydia klopft an: "Kann ich mal reinkommen?"
Arne: "Nein."
Lydia: "Hast du alle Hausaufgaben gemacht?"
Arne: "Ja."
Lydia: "Was hattet ihr denn auf?"
Arne: "Nichts."
Lydia: "Ah."

Mentalisierungs-Fähigkeiten als Basis für Kooperation

Mit zunehmend besseren Mentalisierungs-Fähigkeiten verändert sich in der Zeit zwischen Kindheit und Erwachsenen-Alter auch das Vermögen, zu anderen Menschen Vertrauen aufzubauen. Die Bereitschaft zur Kooperation und das Gerechtigkeits-Empfinden werden differenzierter: Im Vergleich zu jüngeren Kindern und Erwachsenen sind Jugendliche am großzügigsten gegenüber Freunden, bringen ihnen das meiste Vertrauen entgegen – und reagieren verletzter, wenn ihr Vertrauen missbraucht wird.
Das könnte übrigens tatsächlich damit zu tun haben, dass das Gehirn – genauer: die graue Hirnsubstanz – in den Arealen des Mentalisierungs-Netzwerks in der Adoleszenz bis über das 20. Lebensjahr schrumpft. Auch die Zahl der Synapsen ändert sich: Das Gehirn wird geformt, entsprechend der Art und Anzahl der Erfahrungen, die gemacht werden.
"Was wiederum heißt: die Adoleszenz eröffnet noch mal Möglichkeiten – für Lernen, Bildung und auch für Interventionen", sagt Sarah-Jayne Blakemore.

Lydia: "Kannst du mal die Musik leiser machen, bitte!"
Die Musik wird lauter.
Lydia: "Was ist das für ein Scheiß?"
Arne: "Ey, kannst du bitte rausgehen."

Belohnungen beeinflussen Heranwachsende dabei stärker als Bestrafungen – auch das zeigen Studien – aber die Fähigkeit des Gehirns, emotionale aber unbedeutende Reize zu unterscheiden von bedeutenden, aber wenig anregenden Reizen – ist noch nicht ausgereift. Trotzdem ist das Belohnungssystem bei vielen Teenagern schon weiter entwickelt als der prä-frontale Cortex, der die Impulskontrolle reguliert. Die Folge: Lust auf Risiko – und wenig Selbstbeherrschung.
"Während der Adoleszenz entwickelt man ein Gespür für die eigene Identität" erklärt Sarah-Jayne Blakemore. "Vor allem auch für seine soziale Identität. Ein Gespür dafür, wie man von anderen gesehen wird. Das ist ganz wesentlich das, wofür die Pubertät da ist."
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