Neurowissenschaft

Der Lack ist ab

04:12 Minuten
Colorierter Scan eines Motoneurons aus einer Stammzelle.
Die Neurowissenschaft habe ihre Deutungshoheit verloren, meint der Philosoph Jörg Bernardy. © imago / Science Photo Library
Ein Standpunkt von Jörg Bernardy · 15.05.2019
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Freier Wille? Das Ich? Nichts als Illusion! Mit solchen Thesen gingen Neurowissenschaftler an den Start. Doch die angekündigte Revolution des Menschenbildes sei ausgeblieben, meint Jörg Bernardy. Weil man die Rechnung ohne die Emotionen gemacht hat.
Viel ist passiert, seit der ehemalige amerikanische Präsident George Bush im Jahr 1990 die "Dekade des Gehirns" ausrief. Die Ankündigung von Bush Senior brachte das traditionelle Menschenbild ins Wanken. Gewohnte und liebgewonnene Vorstellungen wurden hinterfragt: Das menschliche Ich? Eine Illusion. Phänomenales Bewusstsein? Vollkommen überbewertet und unnötig. Der freie Wille? Eine Wunschvorstellung.
Von der neurowissenschaftlichen Wende versprach man sich nichts Geringeres als eine Revolution des Menschenbilds und eine neue Ära des Denkens.
Fast 30 Jahre später ist wenig von dieser Euphorie und Aufbruchsstimmung geblieben. Besonders das Fühlen stellt die Neurowissenschaft vor unlösbare Herausforderungen. Denn unsere Gefühle sind in gewisser Weise unberechenbar. Trotz messbarer körperlicher Symptome, die Gefühle begleiten, entziehen sie sich einer eindeutigen Messbarkeit.
Dabei beeinflussen Emotionen unser Denken und Verhalten maßgeblich. Was sie nicht nur für Pioniere des Neuromarketing interessant macht. Denn wer die Emotionen seiner Käufer kennt, kann gezielt auf deren Kaufverhalten einwirken. Angefeuert durch digitale Kommunikation und soziale Medien sind sie treibende Kraft lokaler und globaler Gesellschaften. Emotionen sind politisch geworden.

Emotionsforschung auf dem Siegeszug

Die Soziologin Eva Illouz legt 2006 ihre These vom emotionalen Kapitalismus vor. Darin wird der Umgang mit Emotionen zur Ressource und emotionale Intelligenz zu einem neuen Kapital. Im gleichen Jahr veröffentlicht Peter Sloterdijk "Zorn und Zeit". Ihm zufolge sei die politische Gegenwart dadurch gekennzeichnet, dass sich ganze Kulturen emotionalisieren. Auch Kollektive können beleidigt sein oder zornig reagieren.
An kaum einem philosophischen Werk der Gegenwart aber lässt sich die jüngste Wende zur Emotionsforschung so deutlich ablesen wie an dem von Martha Nussbaum. Die Agenda der amerikanischen Philosophin dreht sich in den letzten 20 Jahren immer wieder um die Frage, welche Rolle Bedürfnisse und Emotionen in Politik und Gesellschaft spielen und spielen sollten. Emotionen sind für Nussbaum Urteile über die Welt. Sie geben Auskunft darüber, was wir für wichtig und lebenswert halten. Gefühle sollen so mit ihrer Körperlichkeit als ethische Urteile anerkannt werden.

Kein Denken ohne Körper und Emotion

Und der Siegeszug der Emotionen geht noch weiter. Neuere Forschungen gehen von einer Wechselwirkung zwischen unserer Psyche und unserem Körper aus: So verändert Meditieren beispielsweise unsere Hirnaktivität. Und auch bei körperbasierten Techniken wie Akupunktur, Yoga, craniosakrale Therapie und Osteopathie steht die Psychosomatik im Mittelpunkt. Diese Beispiele zeigen, wie sehr unser Bewusstsein an körperliche Prozesse und Wahrnehmung gebunden ist. Für das Bewusstsein und unsere Emotionen spielt der gesamte Mensch eine Rolle, nicht nur das Gehirn als Schaltzentrale. Was übrigens nicht nur für das menschliche Erleben gilt. Diese so genannte "Embodied Cognition" ist längst Bestandteil der KI-Forschung geworden.
Es gibt kein Denken unabhängig von Körper und Emotionen. Bewusstsein setzt vielmehr eine physikalische Interaktion voraus, eine Wechselwirkung. Anders lässt sich der gegenwärtigen Emotionalisierung der Gesellschaft nicht entgegenwirken. Emotionen sind nicht einfach nur zu beseitigende Störfaktoren. Sie sind Urteile über die Welt und unser Leben, die es ernstzunehmen gilt. Auch der weltweite Run auf die neuen Meditations- und Gefühlssteuerungs-Apps ist ein Zeichen dafür: Emotionen sind selbst in unserem digitalen Alltag angekommen. So könnte die Dekade des Gehirns letztlich nur eine kurze Episode in der Geschichte der Menschheit gewesen sein.

Jörg Bernardy, geboren 1982, ist Philosoph und freier Autor. Studium der Philosophie und Literaturwissenschaften in Köln, Paris und Düsseldorf. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Zuletzt war er mehrere Jahre für die "Zeit" tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Philosophie der Medien, Kultur, Gesellschaft und Ästhetik. Er interessiert sich für die Verbindung von Theorie und Praxis sowie die vielfältigen Erfahrungsmöglichkeiten, die philosophischen Ideen zugrunde liegen. Als Jugendbuchautor veröffentlichte er die illustrierten Sachbücher "Philosophische Gedankensprünge. Denk selbst!" (Beltz & Gelberg, 2017 ) und "Mann Frau Mensch. Was macht mich aus?" (Beltz & Gelberg, 2018).

© Martina Klein
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