Neurobiologe Gerald Hüther über Klischees

Das Christkind muss nicht immer blond sein

07:18 Minuten
Eine geschnitzte Christkindfigur.
Kleinen Kindern, die noch ohne Filter die Welt wahrnehmen, ist es vollkommen schnuppe, ob das Christkind blond, dunkel oder rothaarig ist. © picture alliance / dpa/ Tobias Hase
Gerald Hüther im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 12.11.2019
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Das diesjährige Nürnberger Christkind hat einen dunklen Teint und dunkle Haare. Kindern ist das vollkommen egal, manchen Erwachsenen aber nicht. Denn die nehmen die Welt durch einen Filter wahr, sagt der Neurobiologe und Bestseller-Autor Gerald Hüther.
Nirgendwo steht geschrieben, dass das Christkind blond zu sein hat. Ungeachtet dessen: Als das Nürnberger Christkind Benigna Munsi gekürt wurde – eine gebürtige Nürnbergerin mit deutschen Eltern, der Vater in Indien geboren, deshalb mit dunklem Teint und dunklen Haaren –, hetzte der AfD-Kreisverband München-Land dagegen.
Heute zeigt sich das Christkind das erste Mal im goldenen Kleid der Öffentlichkeit. Wir fragen den Neurobiologen und Bestseller-Autor Gerald Hüther, was in Hirnen laufen mag, für die das Christkind immer weiß und blond sein muss.
Hüthers Enkelkinder besuchen derzeit im indischen Mumbai eine internationale Schule - und lernen dort Kinder aus allen Nationen kennen. "Da kann man eine schöne Beobachtung machen", sagt der Neurologe. "Angeboren ist die Ablehnung von Kindern oder Menschen, die anders aussehen oder anders unterwegs sind als man selbst, nicht. Diese sonderbare Haltung wird erst im Laufe des Heranwachsens erworben."

Kinder haben zuerst keine Filter

Das blonde Christkind sei ein Bild, das in unserem Kulturkreis entstanden sei. Solche geteilten Vorstellungen sorgten auch für Zusammenhalt. Auf den ersten Blick könne das als Vorteil erscheinen, so Hüther: "Aber in einer Welt, in der immer wieder neue Veränderungen auf uns zukommen, in der wir alle aufgerufen sind, uns immer wieder neu zu fragen, ob wir mit unseren Gesinnungen noch in die Zeit passen – da ist das natürlich ein sehr fragliches Vorgehen", betont der Neurologe. "Auf der einen Seite bedient diese gemeinsame Vorstellung ein Sicherheitsbedürfnis, auf der anderen Seite wird sie zunehmend zu einem Hemmschuh für jede eigene Weiterentwicklung, weil man dann in diesen Vorstellungen gefangen bleibt."
Kinder hätten eine unglaubliche Offenheit und seien bereit, auf alles zuzugehen. "Sie kommen ohne Filter zur Welt und bauen sich allmählich beim Heranwachsen die Filter ins Hirn", sagt Hüther. Dann gebe es Erwachsene, die Kinder davon abhielten, und es gebe auch schlechte Erfahrungen, die man mit dem Fremden macht. "Und so wird man dann vorsichtig – mit anderen Worten, man ist nicht mehr bereit sich zu öffnen gegenüber allem, was auf einen zukommt."

Stabilisierungsfunktion für ängstliche Menschen

Während Kinder ihre Aufmerksamkeit noch auf viele verschiedene Dinge fokussieren könnten, hätten Erwachsene gelernt, ihren Fokus nur auf eine Sache zu richten. Und das führe eben auch zu einer eingeschränkten Wahrnehmung. Hüther veranschaulicht das an einem kleinen Experiment: "Wenn ich Sie bitte, durch Berlin-Kreuzberg zu gehen und darauf zu achten, wie viele Menschen mit Sommersprossen es dort gibt, dann kommen Sie anschließend an und sagen: ‚Ich habe 15 gesehen.‘ Und dann frage ich Sie: ‚Und wie viele Hunde haben Sie gesehen.‘ Und dann merken Sie: Sie haben überhaupt nicht auf die Hunde geachtet."
(mkn/mfu)
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