Neuntes Norient Musikfilmfestival

Karneval, Futurismus, Inferno

06:03 Minuten
Zwei Tänzer ineinander verschlungen - Stil aus dem Dokumentarfilm "African Cypher"
Für den Film "The African Cypher" hat Regisseur Bryan Little die Tanz-Crews von Soweto in Südafrika begleitet. © African Cypher
Von Hartwig Vens · 13.01.2019
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Einen modernen Blick auf die Musikszene fremder Länder jenseits der Ethno-Folklore: Das möchte das Schweizer Norient Musikfilmfestival bieten. Eröffnet wurde das Festival dieses Jahr mit dem Porträt der englisch-tamilischen Sängerin M.I.A..
"Norient war am Anfang eine Attacke auf Weltmusik, auf euro-amerikanische Weltsichten. Auf die Art, wie man über Afrika spricht und welche Musik aus Afrika hierhin kommt. Sie sagen dir einfach: Wir leben auch im Hier und Jetzt. Wir haben auch das Internet. Wir sind informiert. Wir wollen modern sein. Und warum ladet ihr immer den ein, der die Cemba-Trommel spielt oder die Tabla. Die sind wütend."
Etwas von der Wut auf die Weltmusik ist geblieben bei Thomas Burkhalter, auch wenn heute allgemein bekannt ist, dass Ethno und Folklore eher Touristenwünsche sind, die das westliche Publikum an die Musiker aus der sogenannten Dritten Welt hat.
Burkhalter ist Gründer von Norient. Die Schweizer Medienplattform ist eine der anspruchsvollsten Publikationsorgane für globale Popmusik. Norient hat am Wochenende in Bern, St. Gallen und Lausanne zum nunmehr neunten Mal sein Musikfilmfestival ausgerichtet.
Angetreten Anfang der Nullerjahre gegen das damals noch vorherrschende Klischee von Folklore aus Stammeskulturen, stellte Norient urbane, digitale Hybrid-Sounds aus dem Globalen Dorf des Internetzeitalters vor, mitsamt dem kritischen Diskurs um Eurozentrismus und Postkolonialismus.

Mit der Kamera am Ort des Geschehens

Wir sitzen im Kino in der Reithalle, dem größten autonomen Zentrum Europas. Graffiti füllt alle Wände, politische Plakate, Punks und Kleinkriminelle lungern vor dem Tor. Hier läuft das Musikfilmfestival, eine Selektion der besten internationalen Musikdokumentarfilme der letzten zwei, drei Jahre. Warum Musikfilme und kein Konzert-Festival?
"Der Filmemacher reist ja schon mit der Kamera meistens dann auch an den Ort des Geschehens, wo die Phänomene stattfinden, an den lokalen Ort. Und dadurch sieht man ja noch mal viel deutlicher eben das Umfeld und politische Situationen, soziale Situationen", sagt Sandra Passaro, Mitarbeiterin von Norient.
Wie beim Bate Bola, dem anderen Karneval aus Rio. Der findet im Norden der Stadt zwischen Favela und Sozialbauten statt. Die Kostüme werden aus allen denkbaren Materialien gemacht, die Tänzer sehen aus wie futuristische Superhelden und der Baille-Funk-Beat hämmert. Der Film des Briten Neirin Jones dauert nur 17 Minuten: Ein situatives Schlaglicht auf ein Phänomen jenseits der Ipanema-Klischees. Viele Fragen bleiben offen, aber die Kürze des Films ist auch wohltuend. Diverse Filme in der Auswahl sind beeindruckend und mitreißend, aber eine halbe Stunde kürzer wäre oft mehr gewesen.

Vor keinem schlechten Scherz haltmachen

Das denkt man zwischendurch auch während der 120 Minuten von "Bamseom Pirates Soul Inferno" des südkoreanischen Regisseurs Jung Yoon-suk. Ein Duo ausgestiegener Kunststudenten spielt Grindcore in Abbruchhäusern. Die Text sind Stummel, manchmal geben sie nur Laute von sich. Ein Highlight ist, sie beim erstellen der Powerpoint-Dateien zu beobachten, mit denen sie ihre Lyrics an die Wand werfen. Vor keinem schlechten Scherz machen die Pirates halt und preisen auch schon mal den großen Führer aus Nordkorea. Regisseur Jung Yoon-suk sagt:
"Die einen sehen ihre Auftritte als Kunstperformance, die anderen als Musik, die Dritten, als gar nichts. Aber den Bomseum Pirates ist das egal. Ihr erstes Album 'Seoul Inferno' umfasst 51 Stücke, dauert aber nur 30 Minuten. Deswegen sind ihre Auftritte eine Kombination aus Musik und Talk. Sie reden irgendwas ohne Sinn und Verstand. Und das Publikum finden ihre absurden Vorreden oft genauso gut wie die Musik."
Die Story kulminiert in der Inhaftierung des Labelmanagers, der einen Tweet eines nordkoreanischen Propaganda-Accounts retweetet hatte. Den lustigen Musikern in den Verhören zuzusehen, wie sie erklären, dass sie antipolitisch sind, aber die Diktatur im Norden natürlich ablehnen, ist schwer erträglich.
Von Korea nach Südafrika: "Die meisten Szenen haben die Dance Crews selbst kreiert. Wir haben besprochen, was sie sagen wollten und wir haben uns eine Lösung überlegt, wie man das im Film ausdrücken kann. Sehr kollaborativ. Eine meiner Hauptfragen war: Was macht Tanz transzendental, was trägt die Tänzer aus sich selbst und ihrem Leben heraus? Was ist die Magie, der Funke? Mehr und immer mehr Tänzern zu begegnen, war für mich ein Weg, das herauszufinden."
Bryan Littles Film "The African Cypher" über die Tanz-Crews von Soweto ist bewegend, vor allem wegen seines Helden Prince, der während der zweijährigen Dreharbeiten an Krebs starb. Bei der Beerdigung springen seine Kollegen ins Grab und tanzen in seinem ganz speziellen Stil auf dem Sarg. Viele verrückte und rasante Szenen sind in dem Film, der leider gehörig ausfranst: zu viele Crews, Personen, Szenen, bei denen sich nicht erschließt, warum sie drinbleiben sollten. Filmdauer: 99 Minuten.

Koloniale Perspektive reflektieren

Neuralgischer Punkt aller Dokumentationen – das stellt sich wieder einmal heraus, je mehr Filme man sieht – ist der Blick des Betrachters aufs Objekt. Der westliche Blick mit seiner Tendenz zur kolonial-ethnologischen Perspektive muss sich hinterfragen und kritisch reflektieren. Manche der Filme kommen doch nicht aus der Falle heraus.
Die besten Filme sind die von Regisseuren über ihr eigenes Land. Auch wenn sie, wie Bryan Little, noch nie zuvor in Soweto gewesen waren. Aber insgesamt hat das Festival die Erwartungen übertroffen und Thomas Burkhalter seinen Anspruch eingelöst: "Es ist nicht Politik auf der ersten Ebene, es geht darum menschlichen Ausdruck, künstlerischen Audruck zu finden und über den nachzudenken."
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