Neues Präsidialsystem in der Türkei

"Nun beginnt der dauerhafte Ausnahmezustand"

Turkey President Recep Tayyip Erdogan has been sworn in as president under a new governing system that gives him sweeping executive powers in Ankara, 9th of July, 2018 . Erdogan took the oath of office Monday in parliament, following last monthÖs election where he garnered 52.9 percent of votes. PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY 16058046
Recep Tayyip Erdogan legt seinen Amtseid als Präsident der Türkei ab. © imago stock&people
Kristina Karasu im Gespräch mit Sigrid Brinkmann · 09.07.2018
Mit der Einführung des Präsidialsystems in der Türkei weitet Erdogan seine Macht weiter aus. Für kritische Wissenschaftler, Künstler und Journalisten wird die Lage dadurch noch schwieriger, glaubt Kristina Karasu.
Vor allem Vertreter östlicher und fernöstlicher Länder sowie afrikanischer Staaten seien bei Erdogans Vereidigungsfeier zu Gast gewesen, berichtet unsere Reporterin Kristina Karasu. Europäische Staatschefs hätten sich mehrheitlich ferngehalten, ebenso Vertreter aus den USA. Auch sei die eigentliche Feier nicht so pompös ausgefallen wie geplant, da es gestern bei einem Zugunglück in Istanbul viele Tote und Verletzte gegeben habe und man aus Respekt gegenüber den Toten und ihren Hinterbliebenen Teile der Feierlichkeiten habe ausfallen lassen.

Maßgeschneidertes Präsidialsystem für Erdogan

Karasu glaubt, dass trotz Aufhebung des Ausnahmezustands nicht zu erwarten sei, dass Künstler in der Türkei ab sofort freier arbeiten können oder inhaftierte Kulturschaffende bald aus der Haft entlassen werden. Sie zitiert eine Überschrift aus einer regierungskritischen Zeitung: "Der vorübergehende Ausnahmezustand wird aufgehoben, aber nun beginnt der dauerhafte Ausnahmezustand."
Schließlich ermögliche das auf Erdogan zugeschnittene Präsidialsystem nun, innerhalb des Systems genauso zu regieren, wie er es per Dekret während des Ausnahmezustands getan habe. "Er kann Verfassungsrichter selbst einsetzen, Minister selbst einsetzen, er kann selbst in die Steuerbehörde eingreifen. Die Gewaltenteilung ist größtenteils quasi außer Kraft gesetzt. Kritische Künstler werden davon sicher nicht profitieren."

18.000 Beschäftigte aus dem Staatsdienst entlassen

In der letzten Woche seien Zeitungskolumnisten zu acht Jahren Haft verurteilt, und am Wochenende 18.000 Menschen aus dem Staatsdienst entlassen worden, darunter viele Wissenschaftler und angesehene Akademiker. Zudem sei angeordnet worden, dass drei Zeitungen, ein Fernsehsender und zwölf Nichtregierungsorganisationen geschlossen werden sollen. Bei den Medien handele es sich vor allem um kleine kurdische Blätter und einen kleinen kurdischen Sender. Das sei kaum überraschend, meint Karasu, da schon während des gesamten zweijährigen Ausnahmezustandes kurdische Medien per Dekret geschlossen worden seien.
Dass darüberhinaus jetzt sogar eine Flüchtlingshilfe-NGO geschlossen werden soll, sei "ein weiterer Angriff auf die Zivilgesellschaft, ein weiterer Angriff auf Leute, die anders denken, und das ist jammerschade, denn noch vor einigen Jahren war die Zivilgesellschaft in der Türkei sehr lebendig. Wer sich noch engagieren darf, das sind Leute, die der Regierung nahe stehen, die religiös-konservativ-nationalistisch agieren."

Exodus der Künstler aus der Türkei

In den letzten Jahren haben schon sehr viele Künstler das Land verlassen, so Karasu, weil die Meinungsfreiheit immer mehr beschnitten worden sei, so dass es immer schwieriger geworden sei kritische Kunst zu produzieren. "Ich habe vor den Wahlen am 24. Juni noch mit einigen Künstlern gesprochen. Da gab es noch einen Hoffnungsschimmer, da versuchte man noch daran zu glauben, dass man es mit Solidarität schaffen könnte, dieses Präsidialsystem auf der Zielgeraden abzuwenden. Ein bisschen von dieser Hoffnung ist noch übriggelieben, dass noch nicht alles vorbei ist, aber die Bedingungen werden nicht leichter."
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