Neues Kino aus dem Norden

Von Michael Lachmann |
Auf den 47. Nordischen Filmtagen in Lübeck wurden die neusten Filme aus Skandinavien und den anderen nordischen Ländern präsentiert. Das abwechslungsreiche Programm bot neben Spiel-, Kinder- und Dokumentarfilmen auch eine Retrospektive zu 100 Jahren norwegisches Kino.
Wie viele Cineasten aus dem Norden schätzt auch der litauische Spielfilmregisseur Algimantas Puipa dieses Filmfestival in der Hansestadt Lübeck, weil es wie in seinem Fall frühzeitig auf die unangepassten Filmschaffenden der baltischen Sowjetrepubliken aufmerksam gemacht hat und den Litauern als gleichberechtigte Partner für ihre nationale Eigenständigkeit jenes Podium verschaffte, endlich als Gleiche unter Gleichen im Norden und den Ostseeanrainern zu gelten.

Puipa: "Sehr wichtig war nach der Wende - das war ein erstes Festival für Puipa, wo er hat angekommen, die Filmemacher aus Litauen waren vergleicht mit nordischen Ländern."

An die 130 neuen Filme aus dem europäischen Norden, von Rejkjavik bis Tallinn waren jetzt in der Hansestadt zu sehen und es gab manche Gelegenheit, zu hinterfragen, wie die Situation hinter den "bunten" Bildern wirklich ist. Robertas Urbanos, Produzent aus Vilnus, der mit Regisseur Algimantas Puipa die Literaturverfilmung "Forest of die Gods", "Wald der Götter" des 1947 verstorbenen litauischen Bestellerautors Balys Struoga in Lübeck präsentierte, registriert in seinem Land jetzt nach einer Zeit des künstlerischen Aufbruchs eine zunehmende Verflachung bei Themen und Handschriften.

Urbanos: "Wir haben jetzt so genanntes Loch, wo kommt keine richtige intellektuelle Filmemachergeneration – da kommt die Subkultur mit diesen mtv-clips und die sind nicht tief interessiert in die kulturellen Sachen, Literatur und ich denke, das ist das Hauptproblem heutzutage in Litauen und … auch im ganzen Baltikum."

Wobei in Estland die Situation günstiger ist. Die estnischen Filmstudios sind stark mit finnischen Instituten verflochten - auch was die kontinuierliche Ausbildung künstlerischen Nachwuchses anlangt. Litauen und Lettland stehen bislang ziemlich allein da. Algimantas Puipa aus Vilnius hatte sein Handwerkszeug noch in der renommierten Moskauer Filmhochschule WGIK gelernt. Das Buch, das er jetzt verfilmt hat, es war zu Sowjetzeiten wegen seiner ganz anderen Sicht auf unsolidarische Verhältnisse in einem KZ, länger verboten, handelt von einem litauischen Literaturwissenschaftler, der in Stutthof bei Danzig interniert war. Dort musste er, der Intellektuelle, in einer sich täglich ändernden und willkürlichen Rangordnung, die von niederen Instinkten sowohl bei Wachpersonal als auch Mitgefangenen diktiert war, behaupten.

Puipa: " Wenn er kam nach Konzentrationslager Stutthof und nachdem er das Buch geschrieben, er hat einen anderen Weg gekommen. Er hat das mit Ironie, mit Sarkasmus, mit schwarzem Humor geschrieben und nicht als persönliche Memoiren. Er hat das präsentiert als protokolliertes Ding, was er genau hat gesehen und was waren die menschlichen Beziehungen im KZ. Im Lager existierten Beziehungen zwischen Menschen und die Häftlinge haben einander vernichtet."

Die diesjährigen Nordischen Filmtage boten aber weniger Historisches als sonst, waren eher auf heutige Familien- und Kindergeschichten, auch gesellschaftskritische, orientiert. In dem wunderbaren finnischen Wettbewerbsbeitrag "Beste Mutter", heute Abend mit dem baltischen Filmpreis geehrt, ist zudem beides zu finden. Der große gefühlsbetonte Film erzählt vom Schicksal eines finnischen Kriegskindes, einem von 70.000, das während des 2. Weltkrieges und dem Angriff der Sowjetunion auf Karelien nach Schweden in Sicherheit zu einer Gastfamilie gebracht wurde. Es dauerte sehr lange, bis der Junge sein Trauma überwinden konnte und seine neue Umgebung akzeptierte. Schließlich wurde daraus eine Herzensangelegenheit, denn die Bindung zu seiner leiblichen Mutter hatte er bereits verloren und als der Junge nach Kriegsende nach Finnland wieder zurück musste, verlor er zum zweiten Mal eine Mutter. Nachwuchsregisseur Klaus Harö hat den Film mit dem Jungen Topi Majaniemi in der Hauptrolle gedreht. "Beste Mutter" ist Finnlands Kandidat für die kommende Auslands-Oscar-Verleihung und auch Norwegen hat seinen in Lübeck gezeigten vor den Hintergründen in Frankreich hochaktuellen Film "Kuß des Winters" dafür nominiert. Zwei Geschichten, die in einem Film miteinander verwoben sind. Jan Erik Holst:

Holst: "Der erste ist mit kulturellen und sozialen Konflikte zwischen Norwegern und Leuten von Asien, Irak, Türkei, Pakistan und die andere Geschichte ist, eine Ehefrau verlässt seine Familie und versucht ein neues Leben. Man kann diese zwei Geschichten zusammenführen. Es ist eine tiefe und menschliche Film."

... den die junge Regisseurin Sara Johnsen als Debütfilm gedreht hat. Eine norwegische Ärztin sucht nach tiefer Enttäuschung die Herausforderung in winterlicher Abgeschiedenheit des Landes. Dort trifft sie auf Menschen aus anderen Kulturkreisen, Flüchtlinge, die sich assimilieren sollen, aber nicht können oder wollen, weil die Hürden familiärer Clans oft zu hoch sind.

Seit langer, langer Zeit erhielt wieder einmal ein Eröffnungsfilm den Hauptpreis der Nordischen Filmtage, 12.500 Euro, vom NDR gestiftet. Sie gingen an den dänischen Regisseur Per Fly, der damit zum dritten Mal bereits in Lübeck erfolgreich ist. Sein Film "Totschlag", über den inneren Zustand Dänemarks, schildert den Selbstbetrug eines altlinken Gymnasiallehrers mit Familie und Geliebter. Er deckt den politisch motivierten Einbruch in eine Waffenfabrik und den Tod eines Polizisten, den seine junge Geliebte verursacht hat. Als er seine Verstrickungen in dieser Beziehung erkennt, ist es zu spät. Am Ende bleibt nur eine große Einsamkeit. Die Geschichte ist filmisch packend umgesetzt. Ein Film, bei dem der Zuschauer ganz unprätentiös erkennt, wie wichtig es ist, zum richtigen Zeitpunkt miteinander zu reden.

Als bester Kinder- und Jugendfilmfilm wurde "Der magische Kater" aus Estland ausgezeichnet. Auch da geht es um Einsamkeit – diesmal eines Jungen, der mit seiner Mutter aufs Land zieht und in der neuen ungewohnten Umgebung, wo er gepiesackt wird, unerwartet Hilfe von einem Kater bekommt. Der verwandelt sich in einen Punk, der dem Menschenkind hilft, sein Selbstbewusstsein wieder zu finden. Ein Märchen mit durchaus realistischen Zügen in traumhaft schöner Landschaft, die ja bei so vielen Nordischen Filmen einfach dazugehört.