Obdachlosigkeit in Los Angeles

Notstand an der Westküste

Obdachlosenzählung in Los Angeles
Freiwillige bei der Zählung von Obdachlosen in Los Angeles im Januar 2015. © AFP / Foto: Frederic J. Brown
Von Nicole Markwald  · 17.11.2015
Besuchern fallen sie sofort auf: die vielen Obdachlosen, die in Los Angeles leben, egal, ob in Venice oder Hollywood. Jüngsten Zählungen zufolge leben 42.000 Menschen auf den Straßen der Westküsten-Metropole, darunter viele Kinder. Die leiden besonders unter der ständigen Unsicherheit.
Es klingelt, Keely Smith ruft ‚Erdbeben, Erdbeben‘ und zwölf Kleinkinder flitzen durch ihren Klassenraum und kriechen unter die Tische. Es wird gedrängelt, gelacht und gestaunt. Derrion hockt zwar unter einem Tisch, aber die Kinder sollen üben, sich auf den Bauch zu legen und mit den Armen den Kopf zu schützen. Smith bittet ihn noch einmal, sich hinzulegen:

"Derrion, how is your body?
Look at Shekinah, oh look she is so safe. Remember – on your knees, cover your head.”
Es gehört zum kalifornischen Alltag, eine Erdbebenübung durchzuführen, auch für Kleinkinder. Doch einen richtigen Alltag haben diese zwölf Kinder kaum. Christopher, Miranda, Destiny und die anderen Drei- bis Fünf-Jährigen kommen aus schwierigen Verhältnissen, erzählt die Leiterin des Kindergartens "Precious Lamb", Lailanie Jones:
"Die meisten unserer Kinder haben zu Hause Gewalt erlebt, Drogenmissbrauch, Obdachlosigkeit, Pflegefamilien, viele Umzüge und manchmal sogar alles zusammen."
Es sind Kinder, die keinerlei Stabilität kennen – und das macht sich auch in ihrem Verhalten bemerkbar:
"Manche werden aggressiv, andere ziehen sich zurück, haben Wutanfälle oder beleidigen andere Kinder oder Lehrer.”
Um die bestmögliche Versorgung für die Kinder zu gewährleisten, ist der Betreuungsschlüssel außergewöhnlich hoch: auf vier Kinder kommt eine Betreuerin. So könne man schnell auf die Nöte der Kinder reagieren, erklärt Jones:
"So können sich die Lehrer darauf konzentrieren, den Kindern altersgerechte Wege zu zeigen, um mit Frustrationen umzugehen. Das ist besser, als sie zu verwarnen und nach Hause zu schicken. Uns geht es nicht nur darum, sie auf die Schule vorzubereiten, sondern ihnen auch soziale Kompetenzen zu vermitteln, wie man gute Entscheidungen trifft, wie man gut kommuniziert und so weiter.”
Kindergartenplätze in den USA sind teuer - ohne Spenden läuft nichts
Mitarbeiterin Erin Wilson zeigt mir die Klassenräume, die Küche, den Spielplatz. Die Räumlichkeiten gehören zu einer Kirche in Long Beach, eine gute halbe Stunde südlich von Los Angeles. 25 Kinder werden hier betreut, täglich von 8 bis 16 Uhr, die Warteliste ist lang. Kindergartenplätze in den USA sind teuer – ein Platz in "Precious Lamb" kostet nichts. Dafür müssen jedes Jahr rund 500.000 Dollar Spendengelder aufgetrieben werden. Ohne freiwillige Helfer würde der Betrieb nicht funktionieren. Gerade für Kinder, die kein festes Zuhause haben, sei der Kindergarten eine Art sicherer Hafen, erzählt Wilson:
"Sie kommen her und wissen genau, dass sie den gleichen Betreuer haben, die gleichen freiwilligen Helfer – kontinuierlich die gleichen Erwachsenen in ihrem Leben zu haben ist sehr wichtig.”
Obdachlos ist, wer kein permanentes Zuhause hat. Insgesamt waren im vergangenen Jahr allein in Kalifornien laut Kidsdata.org knapp 30.000 Kleinkinder und Kinder im Vorschulalter von Obdachlosigkeit betroffen. Manche Kinder leben mit einem Elternteil oder beiden in Obdachloseneinrichtungen oder ziehen von Familienmitglied zu Familienmitglied. Andere wohnen zeitweise ihn billigen Motels oder in ihrem Auto. Erin Wilson nennt ein Beispiel:
"Wir haben zum Beispiel ein süßes Zwillingspaar. Deren Mutter hat einen Uni-Abschluss, hat einen Job. Aber sie wurde von ihrem Mann missbraucht und hat ihn verlassen. Sie lebt momentan mit den Kindern in einer Obdachlosenunterkunft, weil sie keine andere Möglichkeit hatte und spart, um da wieder rauszukommen. Ihr Fall entspricht nicht dem, was wir im Kopf haben, wenn wir an Obdachlose denken."
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Ein US-Polizei-Fahrzeug mit der Aufschrift Sheriff Los Angeles Country Police Departement© picture alliance / dpa / Horst Galuschka
Skid Row - berüchtigtes Obdachlosenviertel in Downtown
Auch Dashonne Espie hat kein festes Zuhause. Auf die Frage wo sie wohnt, sagt die zierliche 40-Jährige:
"I live on 5th and San Pedro"
Fünfte Straße Ecke San Pedro. Dort hat sie ihr Zelt aufgeschlagen, auf dem Geh-weg, neben unzähligen anderen. Der Gehweg ist schmutzig; Müll sammelt sich am Straßenrand, der Geruch ist schneidend. Dashonne ist wie rund 40.000 andere Erwachsene in Los Angeles obdachlos. Ihr temporäres Zuhause ist ein Stück Asphalt mitten in Skid Row, dem berüchtigten Obdachlosenviertel in Downtown Los Angeles. In der San Julian Street gibt es eine Wandmalerei. ‚Skid Row‘ steht dort, ‚Einwohnerzahl: zu viele‘.
"How are you ladies doing?”
John Kelly hat auch auf der Straße gelebt, 17 Jahre lang. Der Kriegsveteran hatte Drogenprobleme, verlor den Kontakt zu seiner Familie. Nach dem Tod eines Freundes hat er sein Leben umgekrempelt, jetzt hilft er anderen Betroffenen. John arbeitet in der LA Mission, einer Anlaufstelle für wohnungslose Menschen. John ist bekannt auf Skid Row, man winkt ihm zu oder hält einen kurzen Schwatz. Er erzählt, dass er in den Augen vieler auf Skid Row nur noch Hoffnungslosigkeit sehe. Und die Sucht nach Drogen. John hebt den Arm und zeigt eine Straße:
"Das wird Jagdrevier genannt. Die Hälfte der Leute dort macht irgendwie Geld, sie verticken gestohlene Ware usw. Dieser Teil der Stadt ist in Gebiete aufgeteilt, vor der LA Mission nehmen die Leute Marihuana, gerade sind wird eine Straße langgelaufen, wo die Kokain-Abhängigen sind. Und hier drüben ist das gefährlichere Zeug, Crack, Heroin und Crystal Meth."
Drogensucht, psychische Krankheiten, Gewalt, Familienkonflikte – jeder auf Skid Row ist damit irgendwann in Berührung gekommen. Aber auch diese Menschen brauchen Kleidung, müssen sich duschen, etwas essen. Die LA Mission und rund 100 weitere Einrichtungen in dem Teil der Stadt helfen. Die Obdachlosen-Industrie - wenn man so will - brummt. Wir laufen sogar an einer Poststelle vorbei, wo Obdachlose Papiere und andere Dinge hinschicken lassen können.
Bürgermeister von L.A. will 100 Millionen Dollar lockermachen
Ein solches Leben – zwischen Einkaufswagen, Müll und Spritzenbesteck, ist für viele von uns undenkbar. Auch für Herb Smith, er leitet die LA Mission, eine Einrichtung, die sich seit 1936 um Bedürftige kümmert. Trotzdem, glaubt er, betrachten viele hier auf Skid Row die Straße als ihre Heimat:
"Viele hier bilden mit denen um sich herum eine Gemeinschaft. Ein Zuhause hat man nicht automatisch, wenn man ein Dach über dem Kopf hat, sondern wenn man in Beziehung zu seiner Umgebung steht."
In Los Angeles hat die Zahl der Obdachlosen in den vergangenen Jahren sogar zugenommen, obwohl es Kalifornien wirtschaftlich gut geht. Die Situation hat sich so verschärft, dass Bürgermeister Eric Garcetti den Notstand ausgerufen hat. In den kommenden Jahren will er 100 Millionen Dollar für Wohnungen und Notunterkünfte bereitstellen. Für Herb Smith nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber immerhin - er will nicht undankbar wirken. Wirklich aus der Welt schaffen könne man das Problem ohnehin nicht, glaubt er.
"I don’t think we’ll ever end it, by definition. We may manage it better, we may reduce it significantly. I think we can reduce chronic homelessness, I think we can reduce street homelessness, but the concept of homelessness entirely – no.”
Smith weiß, dass ähnliche Projekte in der Vergangenheit, wie "Bring L.A. Home" oder "Project 50" auch keinen langfristigen Erfolg brachten. Dennoch lobt er Bürgermeister Garcetti für seine Initiative:
"Das Thema Obdachlosigkeit ist für Politiker ein Rohrkrepierer. Nur sie zu beseitigen wäre ein Erfolg. Insofern ist er mutig, das Thema anzupacken. Aber man muss ja irgendwo anfangen. Etwas zu tun ist besser als gar nichts zu tun."
Kreide-Umrandung eines Körpers auf einer Straße.
Kreide-Umriss auf einer Straße im LA-Viertel "Skid Row"© AFP/Mark Ralston
Billig-Unterkünfte aus Wohlstandsmüll
Auch Greg Kloehn tut etwas. Er steht in seinem Studio: in dem hohen Raum lehnen große Spanplatten an den Wänden, auf einer Werkzeugbank hat sich ein Mix aus Farbtöpfen, Kaffeetassen, Schraubenziehern und Klebebändern angesammelt. Ich steige über Latten und Eimer, es riecht nach Holz. Kloehn zeigt mir sein neuestes Werk:
"Das Fundament ist eine Palette, da habe ich Rollen drunter geschraubt. Zwei Seitenwände sind auch aus Paletten, die Rückwand ist von einem Schrank und das Dach habe ich aus einem Bettgestell gezimmert."
Paletten, Schrank, Bettgestell – es sind Fundstücke von diversen Touren, die Kloehn regelmäßig in seiner Heimatstadt Oakland unternimmt.
"I’m just trying to work with the fruits of the urban jungle…"
Er arbeite mit den Früchten, die der Stadtdschungel so hergebe, erzählt Kloehn, der eigentlich ausgebildeter Glaskünstler ist. Sein Studio liegt in West Oakland, einem alten und armen Stadtteil. Wie in vielen anderen Großstädten an der amerikanischen Westküste leben hier viele Obdachlose. Kloehn war beeindruckt, wie sie aus dem, was sie finden, sich provisorische Unterkünfte bauen – mit Einkaufswagen, Pappkartons, Regenschirmen usw. Und er hatte ein Idee:
"Sie bauen sich Unterstände mit unserem Müll – was ist, wenn ich Müll einsammle und mit meinem Werkzeug etwas baue? Ich wollte an einem Tag eine Unterkunft bauen, die nichts kostete."
Ganz hat es nicht geklappt, er musste Schrauben kaufen und brauchte gut eine Woche, aber es war der Startschuss für sein neues Projekt. 30 dieser Sperrmüll-Häuser hat er inzwischen gebaut, aus einer Satellitenschüssel wurde ein Dach, eine Kühlschranktür zur Haustür umfunktioniert. Bettpfosten, Kaminsims, Sperrholzplatten – manchmal muss Kloehn lange tüfteln, bis daraus eine Unterkunft wird. Er hat auch schon ein Aquarium vom Straßenrand in ein Fenster umfunktioniert.
"Ich kaufe nur Schrauben, Nägel und die Räder - der Rest ist von der Straße - die Farbe, das Bodenmaterial etc.. kostet mich insgesamt 30 bis 40 Dollar - ich gebe, glaube ich, mehr Geld für Benzin aus, um die Stadt nach weggeworfenen Schätzen abzugrasen."
Sobald ein Haus fertig ist, verschenkt er es. Wie an Sheila und ihren Mann Oscar, ein älteres Paar, das seit über 20 Jahren auf der Straße lebt und nun ein Dach über dem Kopf und einen sicheren Ort zum Schlafen hat. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Nicht überall kommt die Idee gut an. Regelmäßig erhalten die Sperrmüllhaus-Besitzer Post von der Stadt mit der Aufforderung, ihren Standplatz zu verlassen. Deshalb schraubt Kloehn Räder und jedes Haus.
"So wird‘s zu einem Katz-und-Maus-Spiel. Ich soll weg? Okay, fünf Minuten später sind sie auf einer anderen Straße. Und die Stadt fängt von vorn an."
Der Sperrmüll-Architekt sagt: Die Obdachlosen sprechen Bände
Kloehn sagt, es gehe ihm in erster Linie nicht darum, Obdachlose zu retten. Er schraube einfach gern verrückte Häuschen zusammen. Aber die Arbeit habe seinen Blick auf Obdachlose verändert. Er bewundert sie für ihren Erfindungsreichtum und Lebenswillen. Und er schämt sich dafür, wie mit ihnen umgegangen wird:
"Hier in San Francisco haben wir Google und Facebook, die Milliarden machen. Trotzdem leben gleichzeitig Tausende auf dem Gehweg vor unserer Haustür. Das spricht doch Bände über unsere Gesellschaft."
Es ist eine Gesellschaft, in der der Staat nicht in der Lage ist, das Problem zu lösen. Und offenbar auch nicht willens ist, viele Millionen Dollar zu investieren für preiswerte Unterkünfte in Großstädten wie Los Angeles, San Francisco und Seattle, wo Obdachlose seit Jahrzehnten zum Stadtbild gehören. Bezahlbare Wohnungen wären ein Anfang, Therapieplätze für Drogen- und Alkoholabhängige ein nächster Schritt, kontinuierliche Betreuung von in Not Geratenen ein nächster.
Hier setzt der Kindergarten "Precious Lamb" in Long Beach an. Man versucht, den Eltern einen Neustart zu ermöglichen. Die Kinder werden ohne Ausnahme ganztägig betreut, so dass die Eltern Zeit für Behördengänge, Therapiestunden oder Unterricht haben. Einige bleiben nur für ein paar Wochen in der Einrichtung, andere mehrere Monate – immerhin ein wenig Routine in einer turbulenten Kindheit. Es ist nur ein kleiner Schritt, der Obdachlosigkeit zu entkommen. Aber wir sehen, dass sich etwas tut, fasst Erin Wilson ihre Arbeit zusammen:
"What we’re trying to do here is at least for these moms, because mainly the parents that we work with are mothers is help give them a place to get started again. This is a little stepping stone towards getting out of homelessness. You do see change. You do see change.”
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