Neues aus der Meeresforschung

Faszinierende Unterwasserwelt

Eine Qualle vom Typ "Chrysaora hysoscella" im Meer
Eine Qualle vom Typ "Chrysaora hysoscella". Die exotische Fauna unter der Meeresoberfläche zieht Menschen schon seit Jahrhunderten in den Bann. © imago/Nature Picture Library
Von Frank Kaspar · 10.08.2017
Der Mond ist besser erforscht als der Meeresgrund, heißt es oft. Gerade darin liegt die Faszinationskraft des Meeres. Seine Geheimnisse befeuern gleichermaßen Kunst und Forschung.
"Freier Mensch, immer wirst du das Meer lieben!"
- Charles Baudelaire "Der Mensch und das Meer" (1857)
"Das Meer ist das Reich der Freiheit. (…) Also, es ist auch ein utopischer Raum, es ist ein Paradies."
"Das Meer ist dein Spiegel: du beschaust deine Seele
Im endlosen Anrollen seiner Wogen…"
- Charles Baudelaire "Der Mensch und das Meer" (1857)
"Das Meer hat eine Faszination für uns Menschen, wenn man die Geschichte des Meers in der Literatur anguckt, das ist so eine Hassliebe: Das Meer ist böse zu uns, aber es ist auch gut zu uns."
"Es ist eine Lebensgrundlage für uns Menschen."
"Lebensgrundlage" und "tödliche Naturgewalt", "Rand der Welt" und "verheißungsvolles Reich der Freiheit" – das Meer macht uns Angst, aber es zieht uns dennoch magisch an. So beschreibt es der Dichter Charles Baudelaire schon 1857 in seinem Gedicht "Der Mensch und das Meer":
"Beide seid ihr dunkel und verschwiegen:
Mensch, nie hat jemand deine Abgründe ausgelotet;
Meer, keiner kennt deine verborgenen Schätze,
so bedacht seid ihr darauf, eure Geheimnisse zu hüten!"
- Charles Baudelaire "Der Mensch und das Meer" (1857)
Ozeane bedecken gut zwei Drittel unseres Planeten. Über 90 Prozent des belebten Raums auf der Erde liegt in der Tiefsee. Nur ein Bruchteil davon ist bisher bekannt. Und so gibt es für Forscherinnen und Forscher auch heute noch viel zu entdecken. Die systematische Erforschung des Lebens im Meer begann vor knapp 200 Jahren. Zuerst warfen Wissenschaftler ihre Netze aus, dann tauchten sie selbst in die Tiefe:
"Es ist schwer, einen Korallen-Meeresgrund zu beschreiben. Der Grund selbst ist von lauter plattenartigen Korallen bewachsen, (…) die sich wie riesige Fächer nach allen Seiten auf dem Meeresgrund ausbreiten."
Dichtete über die Tiefen des Meeres: Charles Baudelaire
Dichtete über die Tiefen des Meeres: Charles Baudelaire© imago/United Archives
Im Sommer 1950 produzierte der Zoologe und Tierfilmer Hans Hass parallel zu seinen Dreharbeiten am Roten Meer auch Expeditionsberichte fürs Radio:
"Ein Fisch-Schwarm ist jetzt zu mir herangekommen. Und ich wollte, meine verehrten Hörer und Hörerinnen, Sie könnten mit ansehen, wie die Fische von vorn an mich herankommen und mich betrachten und mir geradezu ins Fenster hinein schauen."

Freischwimmend mit einer Kamera im Meer

Hans Hass tauchte als einer der ersten frei schwimmend mit einer Kamera. Sein erstes Buch mit Unterwasserfotografien erschien bereits 1939. Aber um das Mikrofon mit auf den Meeresgrund zu nehmen, musste er auf einen traditionellen Taucherhelm zurückgreifen, der durch eine Handpumpe vom Boot aus mit Luft versorgt wurde.
"Stellen Sie sich einen Blumengarten vor, mit hunderten verschiedenen Blumen, die wie auf einer Wiese durcheinander wuchern und sprossen und blühen, dann haben Sie vielleicht die Vorstellung des Anblicks, der sich mir hier bietet. Und über diesen Korallen nun das Gewimmel der Korallenfische, die wie Schmetterlinge hinweggleiten."
Der österreichische Tier- und Expeditionsfilmer Hans Hass in einer Aufnahme von 1950
Der österreichische Tier- und Expeditionsfilmer Hans Hass in einer Aufnahme von 1950© imago/Zuma/Keystone
Keine hundert Jahre vor dieser Reportage aus dem Korallenriff kamen solche Tauchgänge nur in Science Fiction Romanen vor.

"Kapitän Nemo schritt voraus und sein Begleiter einige Schritte hinter uns. (…) Ich spürte schon nicht mehr die Schwere meines Anzugs, der Fußbekleidung, des Luftbehälters und auch nicht das Gewicht der lastenden Kugel, in der schaukelnd mein Kopf wie ein Mandelkern in seiner Schale steckte."
J. Verne, "Zwanzigtausend Meilen unter Meer"
Jules Verne nahm in "Zwanzigtausend Meilen unter den Meeren" das Tauchen mit Druckluft und andere moderne Entwicklungen vorweg.
"Er war ein außerordentlich aufmerksamer Leser. Er hat alles gelesen an meereswissenschaftlichen Büchern und Expeditionsberichten, was zu seiner Zeit zugänglich war."
Porträt des französischen Schriftstellers Jules Verne
Der französische Schriftsteller Jules Verne© imago/Leemage
Natascha Adamowsky ist Professorin für Digitale Medientechnologien an der Universität Siegen. Ihr Buch "Ozeanische Wunder" erzählt von der Faszination der Meeresforschung. Jules Verne ist eine zentrale Figur darin:
"Er war auf der großen Weltausstellung 1867, die eine ganze Reihe von Highlights hatte – einmal den neuen Tauchapparat von Denayrouze. Das sind die Tauchanzüge, die Kapitän Nemo hat, es wird das erste U-Boot eines Deutschen vorgestellt, von Bauer, und es werden die ersten riesigen Aquarien vorgestellt, Aquarien, wo die Wände und die Decke aus Glas sind, so dass, wenn man sich da rein begibt, wirklich den Eindruck hat, auf dem Meeresgrund zu wandeln."
Aquarien inszenierten die Unterwasserwelt auf eine Weise, die bis heute den Blick von wissenschaftlichen Fernseh- oder Kinofilmen prägt. Natascha Adamowsky zeichnet nach, wie sich die Meeresforschung im Zusammenspiel mit Medien und neuen technischen Möglichkeiten entwickelt hat. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts spielte dabei das Mikroskop eine entscheidende Rolle.

Ganz neue Welten - dank Mikroskop

"Es gibt eine Neuerung, was die technischen Linsen angeht, und die Mikroskope werden deshalb viel präziser, sie können viel stärker vergrößern, sie werden aber auch preiswerter. Das heißt, Mikroskope kommen zunehmend in Umlauf, so dass auch das Sammeln von Kleinstlebewesen, also auch das Betrachten von Wassertropfen, (…) zu einem unglaublich beliebten Freizeitvergnügen wird."
Amateur-Forscher tauschten Briefe und naturkundliche Funde mit Wissenschaftlern aus. Zur selben Zeit wurden an Englands Stränden versteinerte Knochen von Meeressauriern entdeckt.
"Und auf einmal tauchen vor den geistigen Augen, aber auch in den Museen, schön neu aufgestellt, gigantische Monster auf, es tut sich also ein derartiger Abgrund unter den Füßen der Leute auf, auch intellektueller Natur, dass viele Leute elektrisiert waren, dieses Rätsel mit zu lösen. Und jedes kleinste Steinchen konnte ein neuer Zahn, ein Fußknochen und damit ein neuer Baustein sein in diesem Rätsel des Lebens."
Dinosaurer in der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts - Illustration von 1881.
Dinosaurer in der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts - Illustration von 1881.© imago stock&people
Das Leben im Wassertropfen und die rätselhaften Fossilien warfen große Fragen auf.
"Wo liegt der Ursprung des Lebens? Was ist der Ursprung der Vielfalt der Arten? // Man war überzeugt davon, dass auf dem Meeresgrund (…) die Antwort auf die Frage liegt, wo das Leben eigentlich herkommt."
Lange Zeit galt in der Wissenschaft allerdings der Lehrsatz, dass in Meerestiefen unter 550 Metern gar kein Leben existieren könne.

"Man mutmaßte, dass überall dort, wo kein Licht mehr ist, auch das Leben aufhöre und dass – außer den ersten Schichten – die ganze undurchdringliche Tiefe (…) eine einzige düstere Verlassenheit sei."
Jules Michelet, "Das Meer"
Als der französische Historiker Jules Michelet das schrieb, war die Theorie von der "unbelebten Zone" gerade erst widerlegt worden. Michelets Kulturgeschichte des Meeres erschien 1861. Im Jahr zuvor musste ein defektes Telegrafen-Kabel vor Sardinien repariert werden. In mehr als zwei Kilometern Tiefe hatten sich Muscheln, Stachelhäuter und Korallen darauf festgesetzt. Mit dieser Entdeckung begann die Zeit der großen Tiefsee-Expeditionen. 1872 brach das britische Forschungsschiff "Challenger" zu seiner Reise auf, 1898 die deutsche "Valdivia".
"Die Valdivia hat ein von Carl Chun, dem Expeditionsleiter, konstruiertes Schließnetz gehabt. Das war eine Neuerung in der Meeresforschung. Und zwar konnte man damit zum Beispiel zwischen 5000 und 4400 Meter genau diesen Spielraum abfischen."
Leben an Bord des Forschungsschiff "Challenger" - Illustration von 1876.
Leben an Bord des Forschungsschiff "Challenger" - Illustration von 1876.© imago stock&people
Der Wiener Publizist Rudi Palla hat der "Valdivia"-Expedition ein Buch gewidmet, in dem er auf viele technische Details eingeht:
"Das war ein Netz mit einem Bügel, der sich dann, wenn die entsprechende Tiefe erreicht war durch ein Flügelrad geöffnet hat, dann hat man das Netz hochgezogen bis eben zu der gewünschten Höhe, und dann hat sich das Netz geschlossen, und dann hat man genau diese 600 Meter abgefischt und gewusst: Was ist in den entsprechenden Tiefenlagen?"

Neue Netze und neue Erkenntnisse

Mit Hilfe der neuen Netze konnten die Forscher nachweisen, dass in verschiedenen Schichten der Ozeane jeweils eine spezifische Fauna zu finden ist. In seinem Reisebericht "Aus den Tiefen des Weltmeeres" schilderte Carl Chun, was die Netze herauf brachten.

"[D]urchsichtige Tintenfische, mit rotem Darm ausgestattete Pfeilwürmer, violett gefärbte Medusen, duftige und ungemein zart gestaltete schwimmende Seewalzen, bisher noch nie beobachtete Tiefseeformen der Rippenquallen und eine Überfülle von Radolarien mit ihren reizvollen Kieselskeletten. (…) [A]lle Hände hatten voll zu thun, um sie zu zeichnen und zu konservieren, und oft gab man in enthusiastischen Worten seinem Staunen über den Farbenschmelz, die Durchsichtigkeit und bizarre Gestalt mancher Formen Ausdruck."
Carl Chun, "Aus den Tiefen …"
"Das Netz wurde an Bord gehievt und in eine große Wanne mit Eiswasser – das war auch eine Neuerung bei Valdivia, dass sie eine Eismaschine an Bord hatten: Sie konnten Eiswasser erzeugen, das ungefähr die gleiche Temperatur hatte wie in 5000, 6000 Meter Tiefe – also, man hat den Fang (…) in diese Wanne gegeben und die für wertvoll gehaltenen Objekte gezeichnet, in den entsprechenden Farben, und man hat sie auch fotografiert, nur: die Fotografie war damals schwarzweiß. Also, ganz wichtig waren diese Aquarelle, die eine natürliche Farbwiedergabe ermöglicht haben."
Der Forscher Carl Chun im Alter von 65 Jahren an seinem Schreibtisch
Der Forscher Carl Chun im Alter von 65 Jahren an seinem Schreibtisch© picture alliance/Zentralbild/Universität Leipzig
Bis 1940 dauerte die Aufarbeitung der Expedition durch Fachwissenschaftler in 24 illustrierten Bänden. Die Präparate von Bord der "Valdivia" sind für Forscherinnen und Forscher auch heute noch interessant. Viele von ihnen sind Einzelstücke, es gibt bisher kein weiteres Exemplar. Außerdem wurden sie noch vor der industriellen Revolution aus einem Ozean entnommen, der sich seither stark verändert hat.
"Ende des 19. Jahrhunderts gab es ja noch keine Erdöl-Förderung im Meer, es gab keine Tankschiffe, die das Meer verunreinigen. Heute ist man eher bestrebt, die Auswirkungen der Klimaveränderung, der Versäuerung, die wir durch Unachtsamkeit und Dummheit verursachen, zu erforschen. Welche Strategien können wir entwickeln? Wie können [wir] die Schäden, die wir schon angerichtet haben, minimieren?"
"[Der Mensch] darf nicht vergessen, dass das Meer sein eigenes geheiligtes Leben führt, seine ganz unabhängigen und selbständigen, für das Heil des Planeten wirkenden Funktionen besitzt. Es trägt machtvoll dazu bei, seine Harmonie zu erschaffen, seine Lebenskraft, seinen Fortbestand zu gewährleisten."
Jules Michelet, "Das Meer"
"Wenn wir an die unglaublichen Wassermassen, die Gewalt, die Kraft und die Langlebigkeit denken, können wir Menschen dem Ozean natürlich irgendwo nichts anhaben, wir Menschen begegnen aber uns selbst …"
Jules Michelet, "Das Meer"

All dies wartete nicht auf die Geburt des Menschen, sondern ging wahrscheinlich schon seit Millionen von Jahrhunderten vor sich. (…) Was kann er zu diesem Wirken noch beitragen?

"Welchen Einfluss hat eigentlich menschliches Handeln auf das Meer? Welchen Einfluss hat zum Beispiel Klimawandel? Und welche Rückkopplungen hat das für die menschliche Gesellschaft?"
Jules Michelet, "Das Meer"

Keine Trennung zwischen Mensch und Meer möglich

Wenig im Guten, mehr aber im Schlechten. Die Ausrottung einer einzigen Art kann einen fatalen Eingriff in die Ordnung, in die Harmonie des Ganzen darstellen.
"Insofern ist der Ozean ein Spiegel für uns, wenn wir feststellen: so groß und weit der Ozean ist, trotzdem können wir ihn verschmutzen, können wir Arten gefährden, trotzdem verändert der sich unglaublich schnell mit uns. Dann sagen wir: Wir müssen den Ozean schützen! Aber was wir eigentlich meinen, ist: Wir müssen uns schützen."
Der französische Historiker Jules Michelet
Der französische Historiker Jules Michelet © imago/Leemage
Jules Michelet erkannte schon vor mehr als 150 Jahren, dass Mensch und Meer nicht mehr getrennt betrachtet werden können. Das gilt heute umso mehr, da der Einfluss des Menschen auf die Biosphäre durch Industrie, Welthandel und Verkehr ständig zunimmt.
"Der Ozean ist sicherlich eines der letzten Gebiete auf unserer Erde, die noch nicht erforscht sind in allen Ecken und Breiten, das ist insbesondere richtig für die Tiefsee. Und trotzdem ist es so, dass wir mehr und mehr versuchen, das Gesamtsystem Ozean zu verstehen, …"

Mit Exzellencluster ins Meer

Martin Visbek vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel trägt als Physiker Daten aus allen Weltmeeren zusammen, um den Puls des Ozeans zu messen.
"Dort interessiert uns, wie der Ozean sich verändert (…) durch natürliche Prozesse, aber auch zunehmend: Hat der Mensch schon einen Einfluss gehabt? Wo hat er einen Einfluss gehabt? Wie genau hat er einen Einfluss gehabt? Das sind zentrale Fragen, die wir uns heute dazu stellen. Es geht also vom Entdecken zum Verstehen und auch ein Stück weit für die Vorhersage. Wir können heute durch unser Verständnis des Systems Ozean durchaus auch ein Stück in die Zukunft gucken."
Professor Visbek ist Sprecher des Kieler Exzellenzclusters "Ozean der Zukunft". Im Frühjahr 2017 hat dieser Forschungsverbund gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung und der Zeitschrift "Le Monde Diplomatique" einen "Meeresatlas" herausgebracht. Darin geht es nicht um die Kartierung unberührter Wasserwüsten, sondern um den Menschen als Teil des "Systems Ozean".

"Welche Reichtümer und welchen Wohlstand verschafft uns der Ozean? Wie gehen wir mit diesen Ressourcen um? Wie steht es um die Gesundheit der marinen Ökosysteme, und was sind die größten Bedrohungen? Wie wirkt sich der vom Menschen verursachte Klimawandel auf Meere und Küsten aus?"
Zitat: "Meeresatlas"
Schmelzender Gletscher in der Antarktis - Zeichen für den Klimawandel
Schmelzender Gletscher in der Antarktis - Zeichen für den Klimawandel© imago / blickwinkel
Der "Klimawandel" steht auch weit oben auf der Agenda des Wissenschaftsjahrs "Meere und Ozeane", das für 2016 und 2017 vom Bundesforschungsministerium ausgerufen wurde. Denn zu diesem Thema erwarten viele Menschen Antworten von der Wissenschaft. Zumal die Stimmen der Skeptiker, die nicht an eine von Menschen verursachte Erderwärmung glauben, in letzter Zeit wieder lauter werden.
"Die klassischen Argumente sind natürlich: Das Klima hat sich immer verändert! Stimmt natürlich auch. Auch das können wir zeigen, dass Eiszeiten viel kälter waren als Warmzeiten, dass wir in den letzten 20.000 Jahren sehr stabiles Klima hatten, was uns als Zivilisation ermöglicht hat, uns zu entwickeln. Aber das, was wir heute sehen, in den letzten 100, 150 Jahren, geht so schnell, mit so eindeutigen Signalen, wir glauben sogar, dass so schnelle Entwicklungen es noch nie gegeben hat, erdgeschichtlich, da gibt es relativ sichere Hinweise dafür, insbesondere wir in der Ozeanforschung können da sehr eindeutige Daten geben."

Der Klimawandel erwärmt vor allem das Meer - und verändert es

Denn die meiste Wärme-Energie, die durch den Klimawandel hinzukommt, heizt nicht die Atmosphäre auf, sondern wird von den Meeren aufgenommen.
"90 Prozent der Wärme-Energie ist im Ozean, sie wird also benötigt, um das Meer zu erwärmen. Und wenn man die Daten anguckt, dann sieht man eine relativ gleichmäßige Erwärmung des Ozeans, viel gleichmäßiger als in der Atmosphäre. Und Diskussionen wie: der Klimawandel hätte aufgehört, gibt es in der Meeresforschung gar nicht, weil die Daten sehr eindeutig sind."
Um die Temperatur des Planeten zu messen, sind Meeresforscher heute nicht mehr allein auf fest verankerte Sonden angewiesen, die von Forschungsschiffen aus alle ein/ zwei Jahre abgelesen werden. Inzwischen sind weltweit etwa 4000 "Tiefsee-Drifter" im Einsatz, die ihre Daten an das internationale Argo-Netzwerk senden.
"Und die Tiefsee-Drifter, die können eigentlich wirklich nur eins: Die können ihr Volumen ändern. Das sind Aluminium-Röhren, die sind 2 Meter lang, 30 cm dick, und in der Mitte haben sie einen Pumpe, die pumpt Öl aus der Druck-Kammer in so einen Gummibalg, und der Gummibalg wird dann ein bisschen dicker, dadurch verdrängt dieser Floater mehr Volumen bei gleicher Masse, bekommt Auftrieb und kann aus 2 Kilometer Wassertiefe aufsteigen zur Oberfläche."
Auf dem Weg nach oben misst der Drifter alle 5 Meter Temperatur, Salzgehalt und Wasserdruck.
"Oben angekommen, hat er dann ein Handy drauf, einen GPS-Receiver und schickt die Daten sofort in die Labore zurück. Diese Roboter "leben" ungefähr vier Jahre, bevor sie dann keine Batterie mehr haben, (…) und das ist eine Superergänzung zu den Satelliten-Beobachtungen, die wir seit den 80er Jahren ja auch haben, aber die können eben nur an der Oberfläche messen und nicht ins Meer rein gucken."

Mond und Mars sind genauer vermessen als der Meeresboden

Zwar gilt nach wie vor der Satz des kanadischen Ökologen Paul Snelgrove, dass der Mond und der Mars genauer vermessen wurden als der Grund des Ozeans. Aber mit modernen Tauchbooten und Robotern dringen Meeresbiologen immer tiefer in den blauen Kosmos vor.
"Da taucht man ab und ist auf einmal sich klar, was man für eine winzige Ameise ist in diesem riesigen Raum, diesem riesigen dunklen schwarzen Raum, der eigentlich den Kraken und Tiefseefischen gehört."

Antje Boetius hat vor allem die kleinsten Meeresbewohner im Blick. Als Professorin am Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie in Bremen und am Alfred Wegener Institut für Polar- und Meeresforschung bricht sie mindestens einmal im Jahr zu einer Expedition mit dem Forschungsschiff auf. Dabei erlauben neue Technologien ihr Einblicke in die Tiefe, die bis vor kurzem noch nicht möglich waren.
Oktopus Franz beobachtet am 06.12.2012 in einem der Aquarien des SeaLife in Timmendorfer Strand (Schleswig-Holstein) die Besucher. 
Oktopus © picture alliance / dpa / Jens Büttner
"Die Entwicklung der Robotik ist ein Riesenvorteil für die Tiefsee-Forschung: Die Roboter können Licht machen, sie können hören, wir können die Geräusche der Meeresbewohner aber auch den Lärm der Menschen im Ozean aufnehmen. Wir können fühlen und schmecken, indem wir chemische Sensoren haben, mit denen man aufzeichnen kann, (…) wir können anhand von genetischen Proben auch Spuren seltener Lebewesen im Meer aufspüren und in Datenbanken einfließen lassen. Das alles können die Roboter für uns machen. Und sie können mit großer Geschwindigkeit dieses Wissen auch verfügbar machen und übertragen. (…) Von der Expedition ausgehend, können wir direkt live im Internet senden: Was ist da unten los in der Tiefsee?"
Auf diese Weise könnte Meeresforschung wieder zum Abenteuer für ein großes Publikum werden. Nicht durch dramatische Inszenierung, sondern indem naturinteressierte Menschen virtuell mit auf den Meeresgrund reisen.
Denn auch wenn der Mensch im Meer inzwischen fast überall Spuren hinterlassen hat, auf jeder Expedition findet Antje Boetius noch neue Arten, wie zuletzt im Nordpolarmeer.
"Dazu gehören zwar kleine, fast unscheinbare Krebschen auf der einen Seite aber eben auch unglaublich schöne große Schwämme, Seegurken, neue Arten von Quallen vor allen Dingen, wir haben unglaublich tolle Quallen dort gesehen."

Klimafolgen nun Hauptgegenstand der Merresforschung

Als die "Valdivia" in den verschiedenen Stockwerken des Ozeans nach neuen Arten fischte, stand die Entdeckung unbekannter Meerestiere noch im Zentrum der Expedition. Heute ist das allerdings längst nicht mehr die Hauptsache.
"Das müssen wir praktisch immer so als Nebenprodukt unserer großen Klimawandel-Fragestellung mit bearbeiten. Reine Fahrten, die wirklich hinschauen: Wie leben die Tiere? Wie begegnen die sich? So was bezahlt einem keiner heutzutage, und das ist sehr schade."
Ungewohnter Anblick: Ein weibliches Exemplar des Tiefsee-Anglerfischs "Caulophryne jordani"
Ungewohnter Anblick: Ein weibliches Exemplar des Tiefsee-Anglerfischs "Caulophryne jordani"© imago/Blue Green Pictures
Als Mikrobiologin untersucht Antje Boetius, welche Rolle Kleinstlebewesen am Meeresboden für das Ökosystem und für die Entwicklung des Klimas spielen.
"Überall, wissen wir heute, sind kleine Einzeller, mit dem Auge nicht sichtbar, so groß wie ein tausendstel Millimeter, also ein Mikrometer, die ganz erhebliche Funktionen in ihrem Genom tragen, in ihrem Erbmaterial, und im Meer haben wir gelernt, dass die Großartiges für uns leisten. Die kontrollieren zum Beispiel den Austritt des Klimagases Methan. Wir kümmern uns nicht um die, wir müssen nichts für die tun, die ganzen Tiefsee-Methanfresser, die wir beobachten, machen da still und friedlich ihre Arbeit. Aber wenn die aufhören würden zu arbeiten für uns, dann hätten wir so viel Methan in der Atmosphäre, dass es ein völlig anderer Planet wäre und vielleicht gar keine Menschen geben könnte."

Blick aufs Ökosystem

Das Interesse der Meeresbiologie hat sich mehr und mehr von den einzelnen Arten auf ihre Rolle im Ökosystem verlagert, von Überlebensstrategien des Individuums auf die Wechselwirkung vieler Faktoren in größeren Zusammenhängen.
"Es sind keine verstreuten, für sich geschaffenen Arten, sondern offensichtlich ein einziges, vollständiges Reich, in dem die verschiedenen Gattungen eine umfassende Teilung der Lebensarbeit organisiert haben."
Jules Michelet, "Das Meer"
Was Jules Michelet bereits in seinem Buch "Das Meer" skizzierte, ist heute Gegenstand der "funktionellen Ökologie". Dieser Ansatz erfordert eine andere Sichtweise auf das Leben im Meer.
"Wenn ich Funktionen betrachte, muss ich die eben auch im Raum betrachten, wenn ich das Ökosystem tatsächlich verstehen will, und wenn ich verstehen möchte, wie bestimmte äußere Einwirkungen auf diese Funktionen ihren Effekt haben."
Für dieses räumliche Verständnis fehlten lange Zeit die technischen Voraussetzungen, sagt Professor Thomas Brey, Meeresökologe am Alfred-Wegener-Institut im Bremerhaven. Je genauer Wissenschaftler die eigene Position auf dem Meer bestimmen können, desto präziser wird auch ihr Bild von den Lebensvorgängen im Ozean.
"Als ich als Student zur See fuhr, navigierten wir nach einem System, (…) das hatte eine Genauigkeit von 100 Metern. Heute navigieren wir nach Satelliten mit einer Genauigkeit, die unter 10, unter 5 Meter, vielleicht bei einem Meter liegt. Das ist unglaublich. (…) Wir wissen von jedem Informations-Bit, das wir haben, wo genau und wann genau das erhoben wurde. Und das setzt uns in die Lage, dass wir alles, was wir an Informationen bekommen, in einen räumlichen Kontext stellen können. (…) Und das ist etwas, was die Eigenschaften eines Ökosystems wesentlich besser widerspiegelt, das ist ein erheblicher Erkenntnisgewinn."

Neue Konzepte für den Meeresschutz

Wie Ökosysteme sich verhalten und wie sich die Vielfalt des Lebens im Meer durch menschliche Einflüsse verändert, das untersucht künftig das Helmholtz-Institut für Funktionelle Marine Biodiversität in Oldenburg. Die gemeinsam mit dem Alfred-Wegener-Institut betriebene Forschungseinrichtung soll neue Konzepte für den Meeresschutz entwickeln.
"Die eine Frage ist ja: Wie stark verändert sich die Biodiversität überhaupt im Meer?"
Professor Helmut Hillebrand ist der Direktor des neuen Instituts: "Können wir überhaupt etwas dazu aussagen, ob die Biodiversitäts-Veränderung heute eine andere ist, als sie in vorindustriellen Zeiten im Meer stattgefunden hat? Eine zweite Frage ist: Welche Konsequenzen hat Biodiversitäts-Veränderung für Prozesse im Ökosystem?"
Um das herauszufinden, untersuchen Helmut Hillebrand und sein Team, unter welchen Bedingungen Algen am besten Sauerstoff produzieren.
"Ungefähr die Hälfte der Sauerstoff-Produktion auf unserem Planeten ist nicht durch die Photosynthese von Pflanzen an Land, sondern durch die Photosynthese von Algen im Wasser produziert. (…) Wir sprechen oft von der ´grünen Lunge der Erde`, wenn wir von Wäldern sprechen, aber im Prinzip hat diese Erde auch einen ´blauen Lungenflügel`. Diese Sauerstoff-Produktion ist eine direkte Folge der funktionellen Ökologie dieser Algen."
Der Sauerstoff für jeden zweiten Atemzug wird von Algen produziert. Aber führt eine größere Vielfalt von Algen im Meer auch zu mehr Sauerstoff in der Atmosphäre?
"Dieser Zusammenhang wird stark diskutiert. Es gibt, zumindest experimentell, sehr starke Nachweise dafür, dass eine Veränderung der biologischen Vielfalt von Algen dazu führt, dass sich auch die Sauerstoff-Produktion verändert, dass zum Beispiel eine starke Reduktion in der Artenzahl dazu führt, dass weniger Sauerstoff produziert wird und weniger Biomasse produziert wird, und das versuchen wir sowohl im Modell als auch experimentell nachzuvollziehen, um auch Vorhersagen machen zu können, welche Veränderungen wir erwarten."
Der Schutz der Meere hat sich bisher vor allem an den Prinzipien von Naturschutz an Land orientiert. Nationalparks und Schutzgebiete werden, so gut es geht, von menschlichen Einflüssen frei gehalten. Aber in den Ozeanen ist genau das schwierig, dort kann man Lebensräume nicht klar voneinander abgrenzen.
"Viele der Organismen, die wir im Meer haben, bewegen sich mit dem Wasser oder eigenständig und das über große Entfernungen, das ist das erste Problem, was wir haben, da muss man mit anderen Konzepten ran gehen."
Hinzu kommt, dass marine Ökosysteme sehr dynamisch sind.
"Wenn wir Algen mit Bäumen vergleichen, wird das sehr offensichtlich. (…) Wenn wir sagen, wir wollen den Bayerischen Wald schützen, dann können wir einen Zustand definieren, den wir schützen wollen. Das ist im Meer gar nicht so einfach, weil wir Systeme haben mit kleinen Generationszeiten mit hoher Veränderlichkeit, und das, was diese Systeme so wertvoll macht, ist nicht ein bestimmter Zustand, sondern die Fähigkeit, sich an neue Umweltbedingungen anzupassen. Das heißt, auch das erfordert konzeptionell eine Neuentwicklung hinsichtlich des Schutzgutes: Was genau möchte man unter Schutz stellen? Da wäre zum Beispiel eine Lösung, zu sagen: Wir wollen Funktionalitäten erhalten, bestimmte Leistungen eines Systems erhalten."

Die Artenvielfalt im Forschungsfokus

Der Schutz einzelner Arten könnte dabei in den Hintergrund treten, aber auf Artenvielfalt kommt es trotzdem an, betont Thomas Brey.
"In einem ´guten` Ökosystem ist es so, dass jede Rolle von vielen Arten ausgefüllt wird. Und jede Art wiederum hat viele verschiedene Funktionen. In einem System, das gut funktioniert, kann eine Art einen Unfall erleiden, und trotzdem ist die Funktion noch da, weil andere Arten sie übernehmen. Es ist robust: Man kann es ein bisschen kicken und treten – kleine Umwelt-Katastrophen, Eiswinter, große Stürme oder auch viel menschlicher Einfluss – und es kommt immer wieder zurück in seinen Normalzustand, wenn die Bedingungen wieder besser werden, weil eine Elastizität drin ist. Das ist eigentlich die große Frage: Wie muss ich mit einem Ökosystem umgehen, damit ich innerhalb der Bandbreite seiner Elastizität bleibe?"
Wenn die Wissenschaft vom Meer zum Schutz der Ozeane beitragen soll, muss sie in Zukunft auch eine Wissenschaft vom Menschen sein. Zu den Lehrstühlen des neuen Instituts in Oldenburg gehört auch eine Professur für Sozialwissenschaften. Denn ein konsequenter Meeresschutz scheitert bisher oft an komplizierten Besitzverhältnissen und Rechtsansprüchen und an fehlender internationaler Kontrolle. Das Prinzip der "Freiheit der Meere", das Fischerei und Seefahrt für weite Teile des Ozeans jahrhundertelang ohne Beschränkungen erlaubte, führte zu massiver Überfischung und Verschmutzung. Jules Michelet mahnte deshalb schon Mitte des 19. Jahrhunderts:

"Die großen Nationen müssen eine Übereinkunft erzielen und an die Stelle dieses chaotischen Zustandes einen Zustand der Zivilisation setzen, in dem der besonnene Mensch nicht mehr sein eigenes Gut vergeudet und sich selbst keinen Schaden mehr zufügt."
Jules Michelet, "Das Meer"
Auf der ersten Ozean-Konferenz der Vereinten Nationen im Juni 2017 in New York haben sich die 193 Mitgliedsstaaten zwar das Ziel gesetzt, gemeinsam gegen die Verschmutzung und Versauerung der Ozeane vorzugehen. Aber der Weg dorthin bleibt schwierig, nach wie vor fehlt eine Instanz, die länderübergreifend für die Weltmeere insgesamt zuständig wäre. Und: Trotz intensiver Forschung weiß man über das Leben im Ozean immer noch viel zu wenig, unterstreicht Antje Boetius. Sie und ihre Kollegen stehen in vielen Bereichen noch ganz am Anfang.
"Es gibt ein sogenanntes ´Nachhaltigkeitsziel` für den Ozean und das Leben unter Wasser durch die Vereinten Nationen, das haben alle Staaten praktisch unterschrieben. Aber wie macht man das genau? Dazu kennen wir das Meer eben so schlecht, und so wie wir an Land wissen, wie wir dort Metallminen irgendwann wieder schließen und Bäume drauf pflanzen, so wissen fürs Meer noch recht wenig: Wie können wir irgendwas heil machen, was wir zerstört haben? Das ist auch ein Forschungsfeld, bei dem wir ganz am Anfang sind."
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