Neues aus dem Zauberflöten-Land

Von Frieder Reininghaus · 27.07.2012
Der Theater- und Opernregisseur Jens-Daniel Herzog bringt das berühmte Mozart-Stück "Die Zauberflöte" bei den Salzburger Sommerfestspielen auf die Bühne. Eine grundordentliche Inszenierung, findet unser Kritiker Frieder Reininghaus.
Salzburg versteht sich seit langem als "Zauberflöten"-Land, obwohl Papageno & Co. weit eher ans Ufer der Donau gehören - die legendäre "teutsche Oper" von 1791 stammt originär von der Linken Wienzeile, wo damals Emanuel Schikander mit seiner Truppe hauste. Aber im Zuge der seit den 1920er-Jahren angesagten sommererfrischenden Ausflüge der Wiener Künstlerschaft ins rechte christkatholische Residuum Salzburg ist auch der höhere Schwachsinn des Prinzen Tamino und das tiefere Bedürfnis des Feinkostlieferanten Papageno nach der Entfaltung des Unterlandes der Triebe hinaufgekommen ins Grenzgebiet.

Als Eröffnungs-Premiere der Salzburger Sommerfestspiele gab es heuer eine neue "Zauberflöte". Vorgeschaltet aber wurden Konzerte, die eine neue Besinnlichkeit in den glamourösen Festspielbezirk tragen sollten - eine "Ouverture spirituelle". Neue Spiritualität liegt ja im Modetrend ganz vorn. John Gardiner präsentierte "The Creation" von Joseph Haydn mit dem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists sowie franziskanische Wege der inneren Pilgerschaft mit spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Werken. Daniel Harding dirigierte Georg Friedrich Händels "Messiah" in der Bearbeitung Mozarts. Aber so richtig los mit Glamour, Audidefilee und allen anderen einschlägigen Schikanen ging es am Freitag, den 27. Juli - wieder mit dem musikalischen Ortsheiligen und dessen für unverwüstlich gehaltenen letztem Produkt fürs Theater.

Nikolaus Harnoncourt stand dem vor bald sechs Jahrzehnten von ihm gegründeten Concentus musicus vor und prozessierte mit dem personell erheblich verstärkten Ensemble einen explizit ausdrucksstarken Sound heraus. Freilich zeitigte der Wille zur Deutlichkeit phasenweise eine (womöglich aufreizend konzipierte) Langsamkeit. Manche Nummer geriet fast zäh - wie ein Braten, den man zu lange in der Röhre stehen lässt.

Alle paar Jahre wird das naiv-raffiniert mit Märchenmotiven und Freimaurer-Metaphorik spielende Singspiel von 1791, diese 'Soap' der zur Neige gegangenen Rokoko-Zeit, für Salzburg frisch auf- und zubereitet. 1996 bestückte Achim Freyer "Die Zauberflöte" mit seinen bewährt grellbunten circensischen Figuren, Kostümen, Gesten, Tricks, Accessoires. Ein Jahrzehnt später schickte Intendant Peter Ruzicka erst den britischen Pragmatiker Graham Vick mit einer bunten Kinderstube ins Rennen, ließ dessen Inszenierung aber alsbald wieder aus dem Verkehr ziehen und ersatzweise den niederländischen Geschäftspartner Audi in die Arena. Pierre Audi recycelte zum 250. Geburtstag des Wunders aus der Getreidegasse eine gut zehn Jahre alte Amsterdamer Inszenierung. Gestützt auf Kindheitsmusterlandschaften des niederländischen Künstlers Karel Appel akzentuierte sie nochmals die infantilen Züge des Werks. Diese Produktion wurde 2008 reaktiviert. Dann hatte ihr letztes Stündchen geschlagen.

Jetzt nutzte der Dortmunder Intendant Jens-Daniel Herzog die Chance, sich von Puppen- und Märchenspiel abzugrenzen und eine moderne Lösung anzubieten. Motiviert von einer Verszeile Taminos, der mit dem ersten Blick auf Sarastros Wohn- und Arbeitswelt erkennt, "dass Klugheit und Arbeit und Künste hier weilen", ließ er das Werk insgesamt in eine Sphäre einrücken, in der programmatisch "Tätigkeit thronet und Müßiggang weichet": In ein humanistisches Gymnasium, wie es vor einem halben Jahrhundert in ländlichen Regionen noch besucht werden konnte.

Die Herren des Lehrerkollegiums tragen die damals noch üblichen dünnen weißen Dienstmäntel gegen Kreidestaub und Nebenwirkungen des naturwissenschaftlichen Unterrichts. Viele gleiche Türen, gerahmt wie von den Felsbögen der Felsenreitschule und säuberlich gekennzeichnet, führen zu den Klassenzimmern und Internatsräumen. Die Sklaven des Mohren Monostatos, der in der geschützten Einrichtung seine sexuellen Begierden zu befriedigen sucht, mutierten zu einer veritablen Klasse pubertierender Jünglinge. Die werden gleichermaßen in Angst und Schrecken wie in Verzückung versetzt. Sarastro - der schlanke und souverän deutlich singende Georg Zeppenfeld - erscheint als stimmige Inkarnation des durch Güte gedämpften autoritären Schulleiters. Das pädagogisch-didaktische Vollprogramm ist weithin eine plausible Lösung für die dramaturgischen Desiderate des Werks, insbesondere für den Prüfungs-Terror des zweiten Akts.

Regisseur Herzog lässt die drei Damen, die mit viel Geplapper und Theatergetue der Königin der Nacht dienen, vom flachen Schuldach aus - Achtung, Symbolik! - die bedrohliche Schlange in den Schlafraum Taminos hinuntergleiten und verwickeln den Musterknaben so in die Rachepläne ihrer Arbeitgeberin. Deren Auftritt wurde mit Vorschusslorbeer bedacht. Freilich erwies sich die Stimmakrobatik von Mandy Fredrich dann doch nicht als technisch ausgereift. Immerhin setzt die schwarze Lady den bis dahin im Bett dösenden Prinzen in Bewegung. Der sympathisch unangestrengt intonierende Bernard Richter lernt dann aber recht rasch durch das Lehrer-Kollegium, was wahre Männlichkeit sei. Entschieden setzt er sich den Prüfungen aus.

Ein klassisches italienisches Dreirad-Lieferwägelchen der 50er-Jahre erwärmt die durch den Blick auf die Lehramtswelt etwas unterkühlten Nostalgiegefühle. Mit Markus Werba als komödiantisch begabtem Geflügelhändler Papageno erhält der Prinz eine Kontrastfigur und einen Kameraden auf der vorgezeichneten Bahn Richtung Matura. Problematisch wird die quasi-realistische Bebilderung der Prüfungshürden, wenn Tamino und die nicht minder sympathieerregende Pamina - Julia Kleiter - am Ende durch Feuer und Wasser gehen müssen: Sie überwinden einen im Schultrakt untergebrachten containergroßen Hochtemperaturofen und eine Zisterne, ohne Brandspuren davonzutragen oder sich einzunässen. Da spätestens meldet sich ein alter Mechanismus der Zauberposse und suspendiert die Logik.

Am Ende rangeln Sarastro und die Königin der Nacht um den siebenfachen Sonnenkreis, dem eine ähnliche Macht spendende Kraft zugeschrieben wurde wie dem Ring des Nibelungen. Sie gehen beide ebenso zu Boden wie ihr jeweiliges Personal. Die leuchtende Scheibe kullert Tamino direkt vor die Füße. Jedes Kind begreift, was der Chor der Pädagogen wie zu einer Immatrikulationsfeier vergangener Tage mit Inbrunst singt: "Es siegte die Stärke und krönet zum Lohn die Schönheit und Weisheit mit ewiger Kron‘." Merke: Ewiges Leben lässt sich diesen Weisheitslehren zufolge nur durch Disziplin, Ordnung und Sauberkeit erringen. Das ist, gänzlich ironiefrei, auch die finale Lehre der grundordentlichen Herzog-Inszenierung.

Nikolaus Harnoncourt vertrat in einem der Premiere sekundierten Interview die Auffassung, Mozart wäre, hätte er länger gelebt, Doyen der Musik für den Wiener Kongresses von 1815 geworden. Das Räsonieren darüber, wie (konter-)revolutionär sich ein Intellektueller oder Künstler zu einem anderen Zeitpunkt an einem anderen Ort gegebenenfalls verhalten hätte, erscheinen generell unverantwortlich (allzu leicht können sie, auch unfreiwillig, posthum rufschädigend geraten).

Im konkreten Fall lenkt die Spekulation von einem relativ intensiven Zusammenhang der Sterbeproblematik ab: In der "Zauberflöte" ist von der Auftrittsarie des Prinzen Tamino bis zum zweiten Finale häufig vom Tod die Rede und werden zwei erst im letzten Moment vereitelte Suizidversuche gezeigt - zum Zeitpunkt der Entstehung des Werks medizinierte der Komponist sich selbst mit einem Quecksilberpräparat gegen die Syphilis und dosierte dabei den riskanten Likör derart hoch, dass er wenige Wochen nach der "Zauberflöten"-Premiere an den Nebenwirkungen jämmerlich zu Grunde ging. Er wollte sich mithin mit seiner Lebensführung gar nicht als Musikzeremonienmeister der Restaurationsepoche prädestinieren.

Auch Harnoncourt, der offensichtlich Hinweise auf die üblen Folgen des Wiener Kongresses aus den Geschichtsbüchern wegretuschiert wünscht und die Metternich'sche Reaktion in Mitteleuropa womöglich für einen Segen für die Weltgeschichte erachtet, sollte in Rechnung stellen, dass "die Schönheit und Weisheit" der Mozartschen Musik sich "ewige Kron‘" nicht dadurch erwarb, dass sie sich im Gemenge der Historie auf die eine oder andere Seite schlug. Mozart gehört völkerrechtlich nicht der Restauration, auch wenn diese ihn mit allen erdenklichen Kräften besetzt.