Neuere Geschichte als Abstieg, Unzulänglichkeit und Verfall

Walter Laqueurs "Mein 20. Jahrhundert" ist zugleich intellektuelle Biographie, weltpolitische Meditation und ein Buch der Unruhe – kantig, urteilsstark und pessimistisch.
Obwohl der in Breslau geborene Jude als Jugendlicher vor den Nazis fliehen musste und die Familie im Holocaust verlor, geht er mit NS-Deutschland erstaunlich gnädig um. Seine Abrechnung mit Stalin und der Sowjetunion (und mit Putin und Russland) ist rigoroser. Mit Blick auf Israel wirft Laqueur der Weltöffentlichkeit "postrassistischen Antisemitismus" vor. Der 88-jährige Historiker zerfleddert die politische Korrektheit der Linken, gibt sich (implizit) als Anhänger westlicher Machtpolitik zu erkennen, traut sich Selbstwidersprüche zu und blickt angesichts von Terrorismus und Islamismus düster nach vorn.

Eingangs macht sich Walter Laqueur Gedanken darüber, wann er am liebsten gelebt hätte. Er fixiert das späte 19. Jahrhundert und hält 1874 (Tolstois "Anna Karenina", Tschaikowskis "Erstes Klavierkonzert" usw.) für ein Jahr, wie es das 20. Jahrhundert nicht mehr hervorgebracht hat. Damit ist die Tendenz klar: Laqueur schreibt über die neuere Geschichte als Abstieg, Unzulänglichkeit und Verfall. Von der Weimarer Republik sagt er, dass "die Marschierer überwogen" und spottet über Hannah Arendts Erinnerung an die Weimarer Kultur.

Der Aufstieg der Nazis erschließt sich für Laqueur über das junge Alter der NSDAP-Parteiführer – ein kluger Gedanke. Dass Hitlers Erfolg vor allem dem Umstand geschuldet war, "dass er seine Versprechen zu halten pflegte", klingt schon riskanter. Falsch liegt Laqueur, wenn er behauptet: "Hitler forderte nie direkt einen Krieg". In "Mein Kampf" steht das anders. Manche steile These mit objektivem Anspruch sichert Laqueur mit reiner Subjektivität ab: "Ich kann nur berichten, was ich erlebt habe." Methodisch ist das grob fahrlässig.

Es folgen die stärksten Kapitel – Laqueur steht auf dem Boden jahrzehntelanger Arbeit als Journalist und Historiker. Der Sowjetunion-Experte räsoniert über den Marxismus und den Kalten Krieg. Er ergreift Partei für den umstrittenen "Kongress für kulturelle Freiheit", eine Institution zur intellektuellen Bekämpfung des Kommunismus, die von der CIA finanziert wurde. Er denkt über den Nahen Osten nach. Ohne blind zu sein für die Anmaßungen der israelischen Politik, verteidigt er das Land gleichwohl gegen… die ganze Welt. Und die Araber sowieso.

Ab der Mitte wird "Mein 20. Jahrhundert" zu einer eher losen Sammlung von Essays über Geschichtsschreibung überhaupt (Laqueur verspottet den Theoriewahn), über Guerilla und Terrorismus (hier ist der Autor eine Koryphäe), über amerikanische Think tanks und die Prognostizierbarkeit von Zukunft (Laqueur ist kein ausgemachter Falke, aber er sieht den Westen im weltgeschichtlichen Stellungskrieg), schließlich über die Geschichte Europas nach 1945 (Europa sinke der planetarischen Bedeutungslosigkeit entgegen).

Weil Walter Laqueur durch das Jahrhundert gegangen ist wie das Jahrhundert durch ihn, weil er Humor besitzt, mutig ist, lässig schreibt, seine heftigen Ressentiments schlecht verbergen kann, dann aber wieder selbstkritisch wird, liest man "Mein 20. Jahrhundert" gern – auch wenn man ihm oft ins Wort fallen möchte. Soweit ein 88-Jähriger cool sein kann, ist es Laqueur mit seinem Resümee, den Nachgeborenen zugedacht: "Macht euch keine allzu großen Hoffnungen für die absehbare Zukunft."

Besprochen von Arno Orzessek

Walter Laqueur: Mein 20. Jahrhundert. Stationen eines politischen Lebens
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz
Propyläen, Berlin 2009
352 Seiten, 22,90 Euro