Neuentdeckung

Im Plauderton an der Spree entlang

Von Günther Wessel · 11.02.2014
Lebendig, etwas verrucht, oft elend und hektisch: Das ist der Ruf Berlins in den 20er-Jahren. Dass die Stadt auch voller zauberischer, romantischer Winkel war, zeigt das jetzt wieder aufgelegte Buch Adolf Heilborns.
Adolf Heilborn wurde 1873 in Berlin geboren, studierte Medizin, arbeitete kurz als Arzt, reüssierte aber bald als Autor. Er schrieb über Naturwissenschaft und Kulturgeschichte, arbeitete als Übersetzer, Theaterkritiker und Rezensent. Bis 1937 konnte der Sohn eines jüdischen Vaters noch publizieren, danach sind keine Veröffentlichungen mehr nachweisbar. 1941 starb Heilborn an "Lungentumor", wie es offiziell hieß. Doch das ist umstritten – es wird vermutet, dass er Selbstmord beging.
1921 schrieb Heilborn für die Berliner Morgenpost seine "Reise nach Berlin". Zunächst erschien sie als Fortsetzungsgeschichte, 1925 dann als Buch. Die Neuausgabe besitzt nun auch ein nützliches Glossar, das über das Schicksal vieler Gebäude und Straßen nach 1925 informiert.
Der Dom: eine verunglückte Weihnachtszuckerbäckerei
Heilborn nimmt seine Leser auf eine sentimentale, liebevolle und geschichtskundige Reise mit durch das sich schnell verändernde Berlin. Er streift durch die historische Mitte der Doppelstadt Berlin und Cölln und durchs Fischerviertel, berichtet von idyllischen Winkeln, Plätzen, auf denen Hähne scharren, Katzen übers Pflaster schleichen und Akazien im Frühling überbordend blühen. Am Schlossplatz drängen sich um den Hohenzollernbau kleine Häuschen wie Küken um die Glucke. Heilborn liebt das Ensemble aus Schloss, Schlossbrücke, Zeughaus und Altem Museum. Ein Gebäude aber stört ihn dort: der überladene Dom. Auf Heilborn wirkt er wie eine verunglückte Weihnachtszuckerbäckerei. Er lehnt den monumentalen Eklektizismus der wilhelminischen Epoche als süßlichen, pompösen Kitsch ab. Doch ist er kein Nostalgiker, im Gegenteil: Den Potsdamer Platz, Symbol der modernen Großstadt Berlin, schätzt er in all seinem Trubel.
Hinterm Potsdamer Platz kam nur noch "Jejend"
Berlin wächst, und Heilborn beschreibt das staunend. In seiner Kindheit hörte am Potsdamer Platz die Stadt auf – danach kam nur noch "Jejend". Ein paar Ausflugslokale und Biergärten, der Botanische Garten war am heutigen Kleistpark; und hinter Schöneberg gab es nur noch Felder bis dann in den frühen Zwanzigerjahren Vorortgemeinden wie Steglitz "viel zu schnell" wachsen, wie er findet. Der Autor vergleicht sie mit einem dicklichen Jungen, "dessen zu kurzer und zu enger Anzug, prall gestopft wie eine Wursthaut, in allen Nähten kracht, wenn er sich bewegt."
So streift Heilborn umher, beschreibt Jugenderlebnisse und zitiert dazu Anekdoten von Schriftstellern wie Adolf Glaßbrenner, Wilhelm Raabe und Theodor Fontane. Eine gelungene Mischung. Und wenn er davon erzählt, dass in seiner Kindheit "ernsthafte Leute, richtige Erwachsene" auf dem Tempelhofer Feld Drachen steigen ließen, dann ist das auch für heutige Leser amüsant.

Adolf Heilborn: Die Reise nach Berlin

Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2013

136 Seiten, 14,95 Euro