Neue Zahlen, alte Meister

Von Jochen Stöckmann |
Die ersten 50 Tage der documenta XII in Kassel sind vorbei, zur Halbzeit rechnen die Veranstalter der weltgrößten Kunstschau mit rund 330.000 zahlenden Besuchern. Dabei sind Zahlen wie diese von keiner großen Bedeutung.
Catrin Seefranz: "Wir rechnen damit, dass zur Halbzeit - also am Sonntag – circa 330.000 Menschen die Ausstellung gesehen haben werden. Also im Verhältnis zur documenta XI sind das circa 14.000 Menschen mehr. Es kann natürlich keiner seriös behaupten, wie das am Ende aussehen wird und wie sich der August entwickeln wird und der September."

Bei der Zwischenbilanz, beim Jonglieren mit den Zahlen hält es documenta-Sprecherin Catrin Seefranz wie die Kommunikationsbeauftragten großer Firmen oder politischer Parteien auch: Man lässt sich nicht in die Karten gucken, nicht bevor es am 23. September, dem letzten Tag der 100-Tage-Ausstellung, zum Schwur kommt.

Und Roger M. Buergel, der unkonventionelle documenta-Chef, hat ohnehin eine andere Meßlatte: nicht statistische Größen, sondern feine Unterschiede, nicht die Quantität, sondern die Qualität des Publikums. Aber auch diese ganz besondere Abstimmung mit den Füßen hat ihre Tücken. In der Neuen Galerie, einer langen und engen Raumflucht kleiner Kabinette, schlurft der nicht abreißende Strom der Besucher mit hörbarem Gleichmut an den Bilderreihen vorbei.

Zwei wunderbare kleine Schwarzweißfotografien der Bauhäuslerin Grete Stern etwa bleiben unbeachtet, alles schaut nur auf bunte Collagen, die daneben wie Schüttgut in täglich blankgeputzten Vitrinen liegen. Eine halbwegs intensive "Beziehung" der Bilder und Epochen mag sich ebenso wenig einstellen wie jener gelassen schlendernde Kenner, den diese documenta fordert – oder zumindest hervorbringen möchte:

Seefranz: "Die Neue Galerie macht sehr deutlich, dass das Räume sind, die nicht für eine Großausstellung gemacht wurden. Und die documenta hat versucht, dagegen einen anderen Ausstellungsort zu schaffen, nämlich den oft und viel diskutierten Aue-Pavillon, wo man doch sieht, dass das eine ganz andere Rezeptionssituation ist."

Was sich zumindest gleicht, was auch im zerfaserten Gewirr des provisorischen Pavillons anzutreffen ist: Ein Gutteil, oft die Hälfte der Besucher, trägt die schwarzen Kopfhörer des S-Guide – verpaßt vor lauter "Vermittlungsarbeit", was es sonst so auf die Ohren gibt. Zum Beispiel von Harvey Keitel, der in einem 40-minütigen Film von James Coleman allerhand Klassisches rezitiert, von "Apoll" bis hin zum "Zorn des Kriegers". Ob aus der Antike, von Shakespeare oder Heiner Müller, das wird nirgends mitgeteilt. Und man versteht eine Besucherin, die vor der lakonisch kurzen Beschriftung den Kuli zückt und spitz bemerkt: "Wenigstens den Titel muss ich mir doch notieren."

Ja, neugierig, wissbegierig ist dieses Publikum. Und auch "entspannt", wie Roger M. Buergel bilanziert: In der mittäglichen "lunch lecture" herrscht – wie vor den Videoleinwänden – ein stetes Kommen und Gehen, rücksichtsvoll und leise. Ein "Bilderstreit", ein entschlossenes Urteil steht da kaum zu erwarten. Man nimmt mit, was kommt – und was an einem Tag an Highlights zu schaffen ist. Am liebsten natürlich die "Alten Meister", bei denen diese documenta erstmals zu Gast ist:

Seefranz: "Was uns sehr erstaunt hat ist, dass der neue Ausstellungsort Schloss Wilhelmshöhe sich so großer Beliebtheit erfreut. Wir hätten eher gedacht, dass das etwas ist für die Liebhaber und die mit ganz viel Zeit, und das scheint nicht so zu sein. Also: Wir sind sehr erstaunt über das große Interesse dort."

Gestern Abend galt dieses Interesse Charlotte Posenenske. Da fragte eine Moderation im "Get together" genannten Gespräch, warum diese Künstlerin der siebziger Jahre denn wohl die einen Farbstreifen gemalt, die anderen geklebt habe? Und fast hätten einige der im Halbkreis versammelten Damen den Finger gehoben wie einst die Erstklässler. Nein, Zahlen sind wirklich ohne Bedeutung, wenn Szenen wie diese belegen, dass jede documenta zumindest hie und da unter das intellektuelle Niveau der Vorgänger-Veranstaltung sinken kann.