Neue Wege ins Offene

Seit den 60er-Jahren hat sich die Performance als ein Genre der Bildenden Kunst etabliert, das stark vom Theater inspiriert ist. Welchen Gewinn die beiden Künste aus ihrer Annäherung schöpfen und wie die Performance auf die Ästhetik aktueller Inszenierungen zurückwirkt, erklärt Ulrike Gondorf im Bühnengespräch.
Zwanzig Männer in dunklen Anzügen stehen in einem engen Raum. Sie wirken müde, in sich gekehrt, scheinen aneinander Halt zu suchen. In stark verlangsamten Abläufen wechseln sie die Positionen, ein großer menschlicher Organismus in schleppender Bewegung. – Ein Mann kämpft mit einem Koffer. Er versucht hinein zu kriechen und den Deckel über sich zu schließen, aber der Koffer ist zu klein. Oder der Mann zu groß. Das Verschwinden lässt sich nicht herstellen.

Zwei Bilder, zwei kurze Sequenzen, beobachtet, zufällig herausgegriffen, an zwei Tagen Ende April. Eine davon spielt im Theater, eine im Bereich der Bildenden Kunst. Dass es gar nicht so leicht ist, hier zuzuordnen, macht in einer Momentaufnahme klar, wie sehr sich hier zwei Künste einander angenähert haben.

Performance auf der Kunstmesse Art COLGNE: Die aus Rumänien stammende Künstlerin Anca Munteanu Rimnic zeigte die Gruppe der Halt suchenden Businessmen – stellte den eiligen Messebesuchern eine emotionsgeladene, rätselhafte Szene des Zusammenbruchs entgegen. Die andere Situation hat ein Theaterregisseur arrangiert: Alvis Hermanis in der Kölner Uraufführung "Die Geheimnisse der Kabbala", die auf Erzählungen von Isaac Bashevis Singer beruht.

Das "Flirren der Performance" zwischen Theater und Bildender Kunst fasziniert viele Künstler. Anca Munteanu-Rimnic hat Erfahrung in beiden Bereichen. Sie macht Objekte und Videos, arbeitet aber auch als Regisseurin im Theater und wirkte als Performerin in Aufführungen der Berliner Volksbühne bei Frank Castorf mit.

Seit den Zeiten von Surrealismus und Dada entwickelt sich die Performance in der Bildenden Kunst. In den 60er-Jahren, durch multimedial arbeitende Künstler wie John Cage und Merce Cunningham, oder die Provokateure der Wiener Aktionskunst, nahm sie gewaltigen Aufschwung. Sie zeigte den Künstlern einen Weg, die Zeit in ihre Kunst hinein zu holen, die keine Rolle spielen kann, wenn ein Kunstwerk den Charakter eines unveränderlichen Objekts hat: ein Gemälde, eine Zeichnung, eine Skulptur existieren außerhalb der Zeit.

Weit stärker noch wirkt der Einfluss in der umgekehrten Richtung. Zeitgenössisches Theater und moderner Inszenierungsstil bedienen sich der Bildkraft und der symbolischen Ausdrucksmöglichkeiten der Performance in wachsendem Maße. Schon Samuel Beckett hat Theatertexte geschrieben, die sich lesen wie die Beschreibung einer Performance, etwa "Tritte", in dem das ausgezirkelte Abschreiten eines Bretts auf dem Bühnenboden genau festgelegt ist und Hauptbestandteil der "Rolle" einer der beiden Darstellerinnen.

Peter Handkes textlose Situationenfolge "Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten", die auch mit vielen Bildzitaten aus der Kunstgeschichte arbeitet, ist ein anderes Beispiel für die Annäherung der Genres. Und wenn Theatermacher wie Rimini-Protokoll eine Bundestagssitzung oder eine Aktionärsversammlung "doubeln" und nachspielen lassen, kann man das auch Performance betrachten, als Kunst-Intervention in der Realität, wie sie auch viele Bildende Künstler betreiben.

Noch viel deutlicher als die Wirkung der Performance auf die Struktur ganzer Stücke und Theaterabende ist ihr Nachhall im Stil der Inszenierungen. Nicht einmal mehr im kleinsten Stadttheater vertrauen Regisseure heute ungebrochen auf den Handlungsablauf eines Stücks, arrangieren die Situationen, die der Text vorgibt. Ob in der antiken Tragödie, bei Shakespeare, Schiller oder einem neuen Stück: häufig unterbrechen Regisseure den linearen Handlungsablauf auf der Bühne und lassen eine Figur heraustreten, in einer symbolischen Aktion ihre Lage, ihre Gedanken und Gefühle ausagieren, stumm, mit obsessiven Wiederholungen eines Schlüsselwortes oder – satzes, singend oder schreiend.

Dann folgt der Zuschauer nicht mehr dem Diskurs, er erkennt "auf einen Blick", in einem auch emotional stark ansprechenden Bild, die innere Befindlichkeit der Figur. Die unmittelbare Anschauung, die der Wahrnehmung eines Kunstwerks entspricht, wird auf den dramatischen Vorgang angewendet.

Hier hat die Performance dem Schauspiel ohne Zweifel neue Mittel und Wirkungsmöglichkeiten eröffnet. Regiehandschriften wie die von Bob Wilson oder Christoph Marthaler sind eindeutig von ihr geprägt. Dass die Mittel vor modischem Missbrauch nicht gefeit sind und oft genug zu ärgerlichen Manierismen verleiten, ist natürlich nicht zu vermeiden. Dennoch haben die Synergieeffekte, die sich bei der Begegnung von Bildender Kunst und Theater am Schnittpunkt der Performance ergeben, beiden Genres Wege geöffnet, die noch nicht zu Ende gegangen sein dürften.