Neue Sachlichkeit in Europa

Wirklichkeitsbetonte Kunst als Folge von Krisen

07:31 Minuten
Grant Woods "American Gothic": Ein Bauernpaar vor einem Holzhaus. Ein Mann mit Brille und Mistgabel in der Hand. Daneben eine konservativ gekleidete Frau.
Grant Woods "American Gothic" hat Amerika nie verlassen. Anja Richter hätte es gerne in ihrer Wunschausstellung über die Realismusbewegungen der 20er- und 30er-Jahre. © picture alliance / empics | Nick Ansell
Anja Richter im Gespräch mit Eckhard Roelcke · 02.01.2021
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Was würden Kuratorinnen und Kuratoren zeigen, wenn sie frei wären von allen Zwängen? In unserer Reihe "Imagine – Was ich unbedingt einmal ausstellen möchte" erklärt Anja Richter, sie würde sich gerne mit der Epoche der Neuen Sachlichkeit befassen.
Wenn Anja Richter könnte, wie sie wollte, würde sie eine Ausstellung zum Thema "Neue Sachlichkeit als europäisches Phänomen" realisieren, wie sie sagt. Richter ist Kuratorin des Museums Gunzenhauser der Kunstsammlungen Chemnitz. In dieser fiktiven Ausstellung würde sie gerne die Realismusbewegungen der 1920er- und 1930er-Jahre in Europa und den USA zeigen und so die Neue Sachlichkeit kontextualisieren.
Neben altbekannten Werken von Otto Dix, Pablo Picasso, Salvador Dalí und Edward Hopper würden auch unbekannte Werke aus Ost- und Südosteuropa hängen. Aber auch ikonische Werke hätte die Kuratorin gerne in ihrer Ausstellung, wie sie sagt, zum Beispiel Grant Woods "American Gothic": "Das Werk hat noch nie den amerikanischen Kontinent verlassen, und es wäre ein Traum, es mal nach Europa zu holen", sagt Richter. Die Kuratorin könnte aber auch unzählige Werke aus der eigenen Sammlung beisteuern. Die Neue Sachlichkeit sei schließlich das Herzstück des Museums Gunzenhauser, sagt Richter.

Eine aus den Fugen geratene Welt

Die 1920er- und 1930er-Jahre stehen für Modernisierung, kulturelle Blüte, Fortschritt in Wissenschaft und Technik einerseits und das Ende des Ersten Weltkrieges, die Weltwirtschaftskrise, wachsende soziale Ungleichheit, Nationalismus, die Spanische Grippe und die Anbahnung des Zweiten Weltkriegs andererseits.
"Das ist eine Zeit, in der eine aus den Fugen geratene Welt in den neuen künstlerischen Ausdruck in einer wirklichkeitsbetonten Kunst findet", sagt Richter. Man wendet sich vom Expressionismus, Futurismus und Kubismus ab. Diese geschichtliche Epoche weise bei allen Unterschieden viele Parallelen zu heute auf. Folglich sei ein Blick in diese Kunstepoche interessant, so Richter: Welche Ängste und Ideale wurden in der Kunst damals formuliert und welche heute?
Anja Richter hofft, diese Ausstellung auch tatsächlich umsetzen zu können – pünktlich zum 100-jährigen Jubiläum der Mannheimer Ausstellung "Neue Sachlichkeit" von 1925, vorausgesetzt Chemnitz wird doch noch Europäische Kulturhauptstadt 2025.
(ckr)

Seit Monaten sind viele Museen geschlossen – Warum die unendlich scheinende "Kunstpause" nicht nutzen, um mal zu träumen? Deshalb haben wir DirektorInnen und KuratorInnen gebeten, ein paar Utopien zu formulieren: Welche Ausstellung sie gern gestalten würden, wenn sie frei von allen Zwängen wären. Die Antworten präsentieren wir in unserer Reihe "Imagine – Was ich unbedingt einmal ausstellen möchte".

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