Neue Perspektiven

Berlin in der Literatur - das ist ein Dauerbrenner. Die Stadt, ihre Bewohner und ihre Geschichten werden von jeder Autorengeneration neu entdeckt und in allen literarischen Formen beschrieben. Nun gibt es ein weiteres Stück Berlin-Literatur: "Parzelle Paradies - Berliner Geschichten" von Annett Gröschner.
Wer aus der Provinz in die Großstadt kommt, trägt unweigerlich Vorstellungen eines anderen Lebens in sich. Wie es war oder wie es sein soll. Die 1964 in Magdeburg geborene Autorin Annett Gröschner zog 1983 nach Berlin. Im Kopf hatte sie Bilder der "Goldenen Zwanziger". Sie zeigten Berlin als eine Stadt, die nie schläft.

Zugleich aber wusste die Zugezogene, dass Berlin im Krieg zerstört worden war - "die "Lektüre der Straße" hat in der Stadt der leeren Räume jeglichen Reiz verloren", schreibt sie später. Überdies war die Stadt geteilt, verstümmelt. Die Stadtpläne der DDR-Hauptstadt zeigten auch "einen grauen Flecken ohne Straßennetz, der die Bezeichnung Westberlin hatte." Und so bemerkt die Autorin gleich das Bekannte, das Provinzielle an Berlin, das Kleinteilige, mitunter Piefige.

"Parzelle Paradies" heißt Annett Gröschners Sammlung Berliner Geschichten, die in der Zeit zwischen 2000 und 2008 entstanden sind. Veröffentlicht wurden sie zumeist in Zeitungen, im "Freitag", der "taz", in Anthologien oder Katalogen. Die Autorin, "eine Archivarin des Alltags" dokumentiert in ihrer Textsammlung - dankenswerterweise nicht nur sachlich, sondern immer auch subjektiv gefärbt, manchmal ironisch - Stadt-und Kulturgeschichte Berlins.

Dass die studierte Germanistin jahrelang als Historikerin im Prenzlauer Berg Museum gearbeitet hat, merkt man ihren Texten über Stadtlandschaft und Hauptstadtbegebenheiten deutlich an. Immer wieder verbindet sie "große" mit "kleiner" Geschichte, menschliche Schicksale und Biografien mit politisch-historischen Veränderungen. Und eröffnet selbst Berlinbewohnern somit neue Perspektiven auf scheinbar Bekanntes. Gröschner regt zum Hinsehen und Staunen an - wie in einem exotischen Kostüm erscheint manch Vertrautes plötzlich komisch, anderes liebenswert oder hanebüchen.

Junge Mädchen, die sich an der Haltestelle über Beziehungen unterhalten, die Hommage an eine Kneipe, die Metamorphose von Hermann Görings Jagdschloss. Man erfährt auch etwas vom verborgenen Stadtleben. Von Empfängen am Savigny-Platz, Theaterspiel in der Laubenkolonie, Entmietung am Prenzlauer Berg. Davon, dass auf dem Gelände des überregional bekannten Veranstaltungszentrums "Kulturbrauerei" im Zweiten Weltkrieg Zwangsarbeiter beschäftigt wurden.

Man lernt Berlin als Hafenstadt kennen, seine Entwicklung seit dem 17. Jahrhundert, die ohne Schiffsverkehr nicht denkbar gewesen wäre. "Nirgendwo in Mitteleuropa gibt es ein dichteres System von Wasserstraßen als in und um Berlin herum." Gröschner informiert über die Verhältnisse in Berlins Ost- und Westhafen, nimmt den Leser mit in das Hafencasino oder auf das Dienstboot des Schiffpfarrers Fedor Pfitzner. Ihre Texte sind informative Reportagen, dicht am Puls der Zeit, doch immer mit Blick auf die wechselvolle Geschichte der Schauplätze, im Bewusstsein historischer Zusammenhänge.

Und sie bezieht sich auf jene Publizisten, die vor ihr Berlin, seine Eigenheiten und sein Umland geschildert haben: Fontane, Walter Benjamin, Franz Hessel oder Inge Müller. Sie kommen in Gröschners erhellendem Stadtführer gleichberechtigt zu Wort mit Rentnerinnen, Teenies, einem lebensmüden Fahrstuhlfahrer. Mit Passanten, Künstlern, Gewerbetreibenden, Nachbarn oder Freunden der Autorin. Ein atmosphärisch dichtes Porträt der Stadt ergeben diese "Berliner Geschichten". Der Leser steht inmitten der "Parzelle Paradies" - unter weitem Himmel glitzert die Metropole, und es riecht es nach Kohl und Kebab.

Rezensiert von Carsten Hueck

Annett Gröschner: Parzelle Paradies. Berliner Geschichten
Nautilus Verlag, Hamburg 2008
219 Seiten, 16,00 Euro