Neue Maßstäbe

Von Andreas Bomba |
Mit der "Götterdämmerung" hat die Frankfurter Oper nun auch das letzte der vier Werke aus dem "Ring des Nibelungen" gezeigt. Es war eine starke Inszenierung.
Nichts dämmert, nichts brennt, nichts geht unter. Dafür nimmt Brünnhilde ergreifend und innig Abschied. Sie tritt an die Rampe. Hinter ihr versammeln sich, um Siegfrieds Leiche, die Menschen, rücken zusammen. Sie wirft den Ring ins Publikum, als flösse hier der Rhein. Ein Blitz zuckt, als wäre hier Walhall. Das Licht geht an. Links aus der Loge lugen die gealterten Götter, rechts räkelt sich goldgewandet Alberich.

Auf der Bühne versammelt sich das restliche Personal aller vier Ring-Opern. An euch, dem Publikum, will das sagen, an euch liegt es nun, wie die Geschichte weitergeht: Macht es besser als wir! Ein starkes Ende für einen starken Abend einer neue Maßstäbe setzenden Inszenierung von Richard Wagners "Ring des Nibelungen".

Anders als ihre gestrenge Lehrerin Ruth Berghaus, die den "Ring" vor 30 Jahren in Frankfurt inszeniert hatte, hebt Vera Nemirova nur zum Finale den pädagogischen Zeigefinger; anders als ihr Lehrer, der Provokateur Peter Konwitschny, versagt sie sich jeden Klamauk.

Gewiss: Siegfried lässt sich von Brünnhilde in einer Badewanne umgarnen. Die Rheintöchter (Siegfried nennt sie "lustige Frauen", und genau so agieren Britta Stallmeister, Jenny Carlstedt und Katharina Magiera) dürfen, "Occupy Opernhaus"-mäßig, für die Rettung des Rheins demonstrieren und Siegfried, den das gar nicht interessiert, ihr Schlauchboot überlassen. Allzu moralinsauer muss der grimme Wagner also nicht sein, schon seine gekünstelte Sprache (die man glücklicherweise per Projektion mitlesen kann) verrät ihn.

Die aus Bulgarien stammende Regisseurin findet, dass im "Ring" nicht irgendwelche Götter und Geschlechter mythisch und lebensfern agieren, sondern es um eine ganz menschliche Angelegenheit geht, um Macht und Reichtum, Gier und Rechthaberei, Hass und Liebe. Es gibt dabei keine Guten und keine Bösen. Jede Figur hat Schauseiten und Abgründe. Und nichts ist Zufall. Der Faden der Geschichte, mit dem die Nornen (mit viel Charakter: Meredith Arwady, Claudia Mahnke, Angel Blue) eingangs ihr retrospektives Netzwerk knüpfen, zerreißt nicht plötzlich. E

Es ist Alberich (Jochen Schmeckenbecher), der mit frechem, kühnem Schnitt die Szenerie wieder in Gang setzt. Unbekümmert gerät Siegfried in eine triste Afterwork-Party an der Gibichungen-Bar. Um sie zu öffnen, muss die von Jens Kilian genial erdachte und gebaute, schräg stehende Scheibe einfach halb um die Achse kreisen. Hagen, ein cooler Strippenzieher (Gregory Frank) lungert auf dem Sofa, Gutrune (Anja Fidelia Ullrich) kommt vom Joggen, bald wird sie dem gen Norden aufbrechenden Siegfried in einer Plastiktüte ein Paar Brautschuhe mitgeben.

Waltraute (mit höchster Intensität: Claudia Mahnke) warnt zwar ihre Schwester vor dem kommenden Unheil, Brünnhilde aber beschwört die heile Welt, bis der als Gunther getarnte Siegfried in ihre Sphäre einbricht. Hier verschieben sich binnen Sekunden musikalische und bildliche Sphären aufs Ergreifendste. Himmelhochjauchzend – zu Tode betrübt.

Ebenso, wenn der stämmige Gibichungenchor (präzise und klanggewaltig einstudiert von Matthias Köhler) seinen B-Dur-Heil-König-Gunther-Akkord mit maximaler Kraft und Suggestion stemmt und dazu der Angsthase Gunther mit seiner Braut, einer gebrochenen Frau, sich auf die Bühne schleppen.

Eben dieser Gunther, der (in der großartigen Darstellung von Johannes Martin Kränzle) sich in einen stummen Grübler verwandelt, während das Orchester, nach Siegfrieds Tod, den Trauermarsch spielt.

Die Regie und Sebastian Weigles sorgsame, differenzierte und auf Transparenz zielende musikalische Leitung geben den Personen Raum und Luft, von ihrem Innersten zu erzählen. Siegfried durchlebt mit Lance Ryans heller, bisweilen naturhaft unverfeinerter, urwüchsiger Stimme vor der Jagdgesellschaft seine Vergangenheit – und erschrickt vor der zu späten Erkenntnis. Susan Bullocks Brünnhilde ist subtil statt laut. Sie klagt nicht an, sondern deutet das Opfer ihres Lebens als leuchtenden Beitrag zur Befreiung der Welt.