Liz Nugent: "Kleine Grausamkeiten"

Eine schrecklich nette Familie

03:22 Minuten
Auf dem Titel des Buchcovers sitzen zwei Vögel, an einem unteren Buchstaben hängt ein erhängter Vogel.
© Steidl Verlag

Liz Nugent

Aus dem Englischen von Kathrin Razum

Kleine GrausamkeitenSteidl, Göttingen 2021

399 Seiten

24,00 Euro

Von Thomas Wörtche · 07.01.2022
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Verkeilt, verbissen, verstrickt: Liz Nugents erzählt von drei Brüdern, die sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen - bis einer von ihnen tot ist. "Kleine Grausamkeiten" ist die oft sehr komische Horrorstory einer dysfunktionalen Famile.
Sie mögen sich nicht, die Drumms aus Dublin. Der Titel von Liz Nugents Roman „Kleine Grausamkeiten“ ist fast ein Euphemismus, wenn man die Beziehung der Familienmitglieder untereinander beschreiben will.
Mutter Drumm ist eine ex- und egozentrische Sängerin und Schauspielerin, der Vater ein netter, aber nicht sehr durchsetzungsfähiger Versicherungsmensch. Die drei Brüder Drumm aber, die uns in jeweils ihren eigenen Perspektiven den Roman erzählen, sind so richtige Schätzchen: Larmoyant und quengelig gönnt der eine dem anderen nicht die Butter aufs Brot.

Frauenverächter, Parasit und kaputter Rockstar

Aber das sind noch die lässlichen Sünden. Will, der Älteste, ist ein despotischer Filmproduzent und Machtmensch, frauenverachtend und rücksichtlos. Brian ist im Grunde ein Loser, ein Parasit, der geldgierig und kleingeistig überall nur seinen kurzfristigen Vorteil sucht, bevor er alles wieder an die Wand fährt. Der Jüngste, Luke, bringt es immerhin zum Rock- und Filmstar, obwohl er der oberflächlich kaputteste von allen ist und vom religiösen Wahn bis zum Drogenexzess nichts auslässt.
Und alle leiden unter der Lieblosigkeit ihrer Mutter. Die Brüder drangsalieren sich, übervorteilen sich, betrügen ihre Frauen, die von dem einen Bruder zu anderen wechseln können, sabotieren die Ehen der jeweils anderen und richten bewusst soziale Schäden an, wo es nur geht. Kleine Grausamkeiten? Das ist blanke Ironie.

Psychogramm einer Familie

Am Anfang ist ein Bruder tot, grausam zugerichtet. Nach fast 400 Seiten wissen wir, welcher das ist. Und warum.  Diese Klammer erweckt tatsächlich den Eindruck, als handele es sich um einen Kriminalroman. Das kann man so sehen, wenn man bereit ist, „Kleine Grausamkeiten“ als Minimalst-Kriminalroman – eine Leiche, eine Erklärung dafür – zu verstehen.
Die Handlung dazwischen, virtuos auf verschiedenen Zeitebenen erzählt, maliziös, scharfsinnig und mit dem produktiven „bösen Blick“ für die unschönen Aspekte von Homo Sapiens und Familie – diese Handlung bietet keinen funktionalen Beitrag zu dem lediglich formal aufgebauten „Todesrätsel“, sie hat keinen Plot, der auf irgendetwas zwingend hinauslaufen muss. Was passiert, letztendlich, hätte so nicht passieren müssen, es hätte auch anders kommen können.

Etikett "Kriminalroman" als Tarnung

Die drei Brüder sind am Ende des Romans so heillos ineinander verkeilt, verbissen und verstrickt, wie sie es schon immer waren, während Eltern, Ehefrauen und andere Menschen aus dem Umfeld verschwinden und höchstens Schuldgefühle bei den Brüdern hinterlassen, die diese mit neuen Grausamkeiten rationalisieren.
Damit ist „Kleine Grausamkeiten“ ein brillanter Familienroman: die oft komische Horrorstory einer dysfunktionalen Familie. Das Etikett „Kriminalroman“ ist höchstens Tarnung - oder ein Beleg dafür, dass „Kriminalroman“ auch nur eine sehr schwach präsente Erzählkonvention sein kann, die mit ganz wenigen Signalen auskommt.
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