Neue Jugenddroge Benzodiazepin

"Das Gefühl, in Watte zu liegen"

07:51 Minuten
Oxazepam in Form von 15mg Tabletten. Oxazepam ist ein kurz- bis mittelschnell wirkendes Benzodiazepin. Oxazepam wird zur Behandlung von Angstzuständen und Schlaflosigkeit sowie zur Kontrolle der Symptome des Alkoholentzugs eingesetzt.
Geschätzt 1,5 Millionen Menschen sind von Benzodiazepinen abhängig, darunter immer mehr junge Menschen. © imago / WHA / United Archives
Von Magdalena Neubig · 05.10.2021
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Benzodiazepine und Opioide sind bei Jugendlichen in Deutschland auf dem Vormarsch, warnen Suchtberater. Das hat mit der leichteren Verfügbarkeit der Substanzen zu tun, mit der Popkultur, aber auch viel mit der Coronapandemie.
"Du hast keine Sorgen, du hast keine Ängste. Du fühlst dich wirklich ein bisschen wie auf einer Wolke. Dir könnte jetzt zum Beispiel einer sagen, deine komplette Familie ist gestorben und dann ist das okay. Du lässt dann Sachen gar nicht an dich ran."
So fühlt es sich für Manu an, auf Lorazepam zu sein. Zumindest bei einer hohen Dosis. Manu ist 24 Jahre alt, lebt in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen, arbeitet in Vollzeit und ist seit knapp sechs Jahren abhängig von Lorazepam.
Lorazepam ist ein verschreibungspflichtiges Medikament aus der Wirkstoffgruppe der Benzodiazepine, wie Darius Chahmoradi Tabatabai erklärt. Er ist Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Entwöhnungstherapie in Berlin.
"Das sind eigentlich Notfallmedikamente, die ein Segen sind in vielen Situationen. In der Neurologie bei der Epilepsiebehandlung sind die ganz wichtig, auch bei der Behandlung von Psychosen."

"Du bist komplett Herr deiner Sinne"

Benzodiazepine wirken auf das zentrale Nervensystem und dämpfen die eigene Wahrnehmung. Und das innerhalb kurzer Zeit. Landläufig sind sie vor allem als Beruhigungs- und Schlafmittel bekannt.
"Das ist keine Substanz, die dein klar strukturiertes Denken beeinflusst. Du bist komplett Herr deiner Sinne, aber hast eben das Gefühl, in Watte gelegt worden zu sein."
Manu hatte Lorazepam das erste Mal bekommen, als er wegen einer Panikattacke in der Notaufnahme war. Da er Angststörungen hat, ließ er sich Lorazepam daraufhin von seinem Hausarzt verschreiben. Er nimmt es bis heute, wenn auch in einer niedrigen Dosis. Lorazepam ganz wegzulassen, schafft er nicht.
Auch wenn man Benzodiazepine nur wenige Wochen am Stück nimmt, kann man schon süchtig werden, erklärt der Suchtmediziner Chahmoradi Tabatabai.
"Man geht davon aus, dass von Benzodiazepinen rund 1,5 Millionen Menschen abhängig sind. Und das ist so das Tückische bei den Benzodiazepinen. Gerade Jüngeren, die das ganz gut steuern, denen merkt man das nicht an. Bei vielen ist das erst im Alter so, dass es auffällt, weil sich da die Verstoffwechselung des Medikaments verändert und dann plötzlich so relative Vergiftungserscheinungen auftreten."

Auch mehr Opiode werden konsumiert

Bislang war die Abhängigkeit von Benzodiazepinen vor allem ein Thema bei älteren Menschen, die die Substanzen regulär verschrieben bekommen haben. Jetzt scheint sich aber ein neuer Trend abzuzeichnen. Jugendliche nehmen die sedierenden Substanzen auch einfach zum Spaß. Dabei geht es nicht nur um Benzodiazepine, sondern auch um Opioide wie Tilidin und Tramadol, die in der Medizin als Schmerzmittel eingesetzt werden.
Lars Behrends arbeitet seit 16 Jahren als Sozialpädagoge in einer Drogenberatungsstelle in Berlin-Marzahn und beobachtet die Entwicklung aus nächster Nähe.
"Wir haben jetzt innerhalb der letzten Monate festgestellt, dass bei bestimmt einem Drittel der Jugendlichen, die zu uns kommen, Tilidin- und Benzodiazepingebrauch ein Thema ist – wohlgemerkt, vor einem Jahr war das noch überhaupt kein Thema."

Die "Lieferandoisierung" des Drogenmarkts

Auch weil sich der Drogenmarkt verändert hat, kommen junge Menschen noch leichter an Drogen und Medikamente heran. Vor allem über den Messengerdienst Telegram können alle möglichen Substanzen gekauft werden:
"Es findet so eine Art Lieferandoisierung des Drogenmarktes statt und das führt natürlich dazu, dass auch experimenteller Konsum deutlich einfacher gemacht wird."
Dass Jugendliche besonders neugierig auf Benzos und Opioide sind, liegt auch an popkulturellen Einflüssen, sagt Lars Behrends:
"In bestimmten Formen des Straßenraps, des Hip-Hops, Trap und so weiter, werden Benzodiazepine ganz schön abgefeiert. Und über diese popkulturelle Befeuerung ist eine Nachfrage hergestellt worden, die sich jetzt auch auf dem Markt sichtbar macht und in den Konsumgewohnheiten der Jugendlichen."

"Kuschelige" Drogen für den Lockdown

Was ursprünglich nur ein Ding in der amerikanischen Musikszene war, ist inzwischen in Deutschland angekommen: RIN, Ufo361, Bonez MC – sie alle rappen über Benzos und Opioide. Capital Bra hat dem Opioid Tilidin 2019 sogar eine ganze Single gewidmet.
"Paar Tropfen Tille, seh den Film an mir vorbeifahren, lieber Gott, ich fühle mich so einsam. Gib mir Tilidin, ja ich könnte was gebrauchen, Vodka E, um die Sorgen zu ersaufen. Alles was ich weiß, Liebe kann man sich nicht kaufen und das Leben ist zu kurz, um nicht zu rauchen. Gib mir Tilidin…"
Die Rapper Capital Bra und Samra stehen mit Mikrofon auf der Bühne und performen.
Opioide wie Tilidin sind in der Popkultur angekommen, wie bei den Rappern Samra und Capital Bra.© imago images / Jan Huebner
Das Lied war 40 Wochen auf Platz eins der deutschen Charts.
Auch der lange Lockdown könnte zum Benzo-Trend beigetragen haben:
"Natürlich ergibt das Sinn, wenn man sowieso nicht in den Club gehen kann, auf Substanzen zurückzugreifen, die eher kuschelig sind und den Rückzug ins Private fördern."

Wortfindungsstörungen durch Lorazepam

Dass der Drogenkonsum somit im "privaten Kämmerlein" ohne Freundinnen und Freunde in der Nähe stattfindet, beunruhigt den Sozialpädagogen Lars Behrends. Denn Überdosen oder die gleichzeitige Einnahme von Alkohol, Benzodiazepinen und Opioiden können gefährlich werden.
"Zum anderen ist allen sedierenden Substanzen eigen, dass wenn sie überdosiert werden oder vor allem in Wechselwirkung mit anderen sedierenden Substanzen stehen, dass sie eine Atemdepression auslösen können, also dass sie im schlimmeren Fall zu Bewusstlosigkeit bis hin zum Tod führen können."
Manu hat die Erfahrung gemacht, dass die Nebenwirkungen stark von der Dosis abhängen. Als er noch mehr Lorazepam genommen hat, hatte er Wortfindungsstörungen. Bei der niedrigen Dosis jetzt beobachtet er keine so unmittelbaren Nebenwirkungen mehr.
"Allerdings denke ich manchmal, dass ich Gefühle nicht mehr so intensiv wahrnehme wie damals. Schwer zu erklären, aber ich bin grundsätzlich ein ziemlich ruhiger Mensch, ich raste eigentlich nie aus oder so. Aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass ich früher impulsiver reagiert hab, also dass ich durch diesen jahrelangen Konsum ein bisschen abgestumpfter bin."

Jugendlichen fehlt das Bewusstsein für die Risiken

Wer Benzodiazepine nur kurz nimmt, kann sie laut Mediziner Darius Chahmoradi Tabatabai in der Regel wieder runterdosieren und so ausschleichen.
"Gefürchteter sind langjährige Abhängigkeiten, wo die Dosis noch nicht mal groß sein muss, aber wo das dann völlig unterschätzt wird, wenn man das mal schlagartig weglässt. Das geht gar nicht. Und dann können sehr heftige Entzugserscheinungen auftreten – bis hin zu einer Psychose oder epileptischen Anfällen."
Jugendliche scheinen sich der Risiken oft nicht bewusst zu sein. Wenn sie in die Drogenberatungsstelle in Marzahn kommen, dann in der Regel, weil ihre Eltern, Betreuerinnen oder Betreuer sie dort hingeschickt haben, erzählt Lars Behrends.
Viele sind neugierig und probieren die Substanzen deshalb, für manche Jugendliche ist der Benzo- und Opioidkonsum aber auch eine Bewältigungsstrategie.
"Es gibt auch Jugendliche, die sehr, sehr lost im System unterwegs sind, die verschiedenste soziale Probleme haben, die es ihnen nicht leicht machen, Alternativen zum Konsum zu entwickeln. Der Gebrauch von sedierenden Substanzen kann auch eine adäquate Antwort sein auf Schmerzen, auch auf seelische Schmerzen, die man erfahren hat."
Deshalb gehe es in der Beratung vor allem darum, die Jugendlichen erstmal auf die Gefahren des Konsums aufmerksam zu machen, sagt Behrends.
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