Neue historische Weltkarte

03.11.2008
Christian Kracht entwirft in seinem Roman eine neue historische Weltkarte, in der der Bolschewismus 1917 in der Schweiz und nicht in Russland gesiegt haben soll. Dabei reist ein farbiger Afrikaner als Politikkommissar durch die umkämpfte Alpendiktatur. Er erlebt Exzesse der Grausamkeit, die im Kracht-typischen Sound der Ungerührtheit vorgetragen werden.
"Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten": Der Titel von Christian Krachts neuem Roman zitiert ein Soldatenlied aus dem Ersten Weltkrieg. Das damit angedeutete Ineinander von Lyrik und Gewalt kennzeichnet das Klima des ganzen kurzen Romans.

Er entwirft eine neue historische Weltkarte, in der der Bolschewismus 1917 in der Schweiz und nicht in Russland gesiegt haben soll und seither in einem ununterbrochenen Krieg mit den umgebenden Mächten – den faschistischen Regimen in Deutschland und Italien, dem kolonialen England und einem asiatischen Großreich am Ostrand dieser Welt – liegen soll. Dabei verwandelte sich die Schweizer Sozialistische Sowjetrepublik zu einem grausamen Zwangsstaat, dessen Schreckenskern in einem unterirdischen Zwangsréduit, einer labyrinthischen Alpenfestung liegt.

Diese Alternativhistorie knüpft einerseits an Klassiker der Science-Fiction an wie Philipp K. Dicks "Orakel vom Berge", das von einem durch Japaner und Deutsche besiegten Amerika um 1960 erzählt. Stilistisch aber orientiert sich Krachts Erzählung an der Literatur der totalitären Epoche Europas, also an Autoren wie Ernst Jünger, Isaak Babel oder Dino Buzzatti. Stoizismus, Lakonie, Schrecken und kühle Lyrik bezeichnen diesen sprachlichen Kosmos. Hauptkennzeichen ist das absichtsvolle Fehlen von Mitleid und Moral, ein anti-individualistischer Dandyismus. Krachts Roman bietet die retrospektive Bonsai-Version dieser Ästhetik des Schreckens, angereichert mit Zitaten aus Film und Popkultur. So darf man das Buch eher als langes Prosagedicht, denn als konsistente Erzählung verstehen.

Die Handlung: Ein Politikkommissar, übrigens ein farbiger Afrikaner aus den Kolonien der Schweizer Sowjetunion, reist auf der Jagd nach einem Verbrecher quer durch die umkämpfte Alpendiktatur und erlebt, begeht und erleidet dabei eine lange Kette von Exzessen der Grausamkeit, die in dem Kracht-typischen Sound der Ungerührtheit vorgetragen werden.

Sprachlich ist das Buch meisterhaft gearbeitet, die Epiphanien des Schreckens, die Ruhepunkte und die Erlösungsmomente stellen sich unvermittelt in wenigen einfachen, aber glanzvoll zurechtgefeilten und rhythmisierten Sätzen ein. Ideologisch und politisch – sofern man solche Maßstäbe an ein Werk der ästhetischen Provokation anlegen mag – ist dieser kurze Stationenroman höherer Trash. Man mag sich fragen, ob er eher diagnostisch zu lesen ist – als Vorschein kommender Schrecken, wie es mit Krachts Vorgängerbuch "1979" möglich war, das im Umkreis der Teheraner Ayatollah-Revolution spielte -, oder als weiteres Zeugnis für den Lebensekel einer Generation, der die Reizarmut des europäischen Friedens seit 1945 die Fantasie versauern ließ. So bietet Krachts raffiniertes Büchlein vor allem Anlass für Selbstexperimente des Lesers.


Rezensiert von Gustav Seibt

Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 160 Seiten, 16,95 Euro.