Neue Erfahrungen auf den immergleichen Wegen

Von Günter Kaindlstorfer · 10.08.2005
Ilse Aichinger geht gern außer Haus: Tag für Tag zur etwa gleichen Zeit verlässt die 84-Jährige ihre Wohnung in der Wiener Herrengasse. Ein kurzer Vormittagsspaziergang über den Michaelerplatz führt sie mit schöner Regelmäßigkeit ins Café Demel gleich ums Eck.
Vom Personal, den so genannten Demelinerinnen, diskret umsorgt, gibt sich die Dichterin in der einstigen KuK-Hofzuckerbäckerei den ortstypischen Vergnügungen hin: Kaffee trinken, Zeitung lesen, das Kommen und Gehen vor der Tortentheke beobachten, vor allem aber: Schreiben.

Ilse Aichinger schreibt viel im Demel, auf Briefumschläge und Speisekarten, auf Rätselhefte und Tagungsprogramme der "Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung". In ihrem Stammcafé sind auch die Feuilletons und Kurzprosatexte entstanden, die nun in dem Band "Unglaubwürdige Reisen" versammelt sind, erschienen bei S. Fischer.

Ilse Aichinger: "Ich bin hauptsächlich Demel-Kundin, weil der Kaffee dort besser ist als anderswo. Ich würde sogar sagen: Der Demel-Kaffee ist einzigartig, und die Demelinerinnen nehmen mich als Stück des Hauses. Ich kann dort schreiben, ich kann machen, was ich will."

Ursprünglich hat Ilse Aichinger die in den "Unglaubwürdigen Reisen" gesammelten Feuilletons für die Wiener Tageszeitung "Der Standard" geschrieben. Zeitlich reicht der Bogen vom Terroranschlag auf die Zwillingstürme in New York bis hin zum Literaturnobelpreis für Elfriede Jelinek. Ilse Aichinger unternimmt ihre Reisen vorwiegend in der Phantasie. In einem der Feuilletons heißt es:

"Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen: Das fiel mir schon ziemlich früh auf. Die unglaubliche Sprachlosigkeit Gesellschafts- oder auch Einzelreisender. Sie reicht nicht zur Stille, umso mehr zur Stummheit. Das gibt dann Lichtbildervorträge: "Hier siehst du mich", aber wen sieht man, zwischen Eisbergen oder an Dattelpalmen gelehnt? Wieder nur sich selbst. Deshalb ist es mir lieber, immer dieselben Wege zu gehen oder dieselben Strecken zu fahren. Die Qualität der Entdeckungen wächst."

Ilse Aichinger: "Ich geh auch jetzt noch immer dieselben Wege, wenn ich was Neues erfahren will. Wenn man nach Rio de Janeiro fährt, sieht man ja nichts Neues. Man versucht immer, seine alten Vorstellungen einzubauen."

Ilse Aichingers literarische Kopfreisen führen sie in den Kaukasus und nach Odessa zu Isaak Babel, nach Aberdeen zu Alfred Adler und nach Novi Sad zu Aleksandar Tisma. Auch an ihre Begegnungen mit Thomas Bernhard erinnert sich die Dichterin in mehreren Texten:

"Bernhard hatte mir einmal gesagt, ich solle kommen, wenn ich Sorgen hätte, welche auch immer, und ich rief an, die Verträge von Suhrkamp schienen mir schwer durchschaubar. Drei Stunden später stand Thomas Bernhard bei uns, im Haus in Großgmain, in der Tür, sein Wagen schräg hinter ihm. Sein Kommentar war knapp: "Da kann man nichts machen." Der arme Thomas – von Inge Scholl an seinem Grab am Grinzinger Friedhof so genannt – stand kurz im Garten. Seither versuche ich herauszufinden, in welchem Maße der arme Thomas ein armer Thomas war, und bin noch lange nicht damit fertig."

Allen Bernhard-Klischees zum Trotz, Ilse Aichinger ist sich sicher: Der Dichter hat die schönen Seiten des Lebens durchaus genossen.

"Ich glaube, dass er sehr lebenslustig war und deshalb umso mehr unter seiner TBC gelitten hat. Er war sehr auf das Leben aus."

Thomas Bernhard: "Das ist ja das Schöne an meinen Büchern: dass das Schöne überhaupt nicht beschrieben ist, dadurch entsteht es von selbst. Und die, die nur Schönes schreiben, da sind die Bücher alle schiach und grauslich."

In einem ihrer Feuilletons beschreibt Ilse Aichinger einen Besuch bei Thomas Bernhard im berühmten Ohlsdorfer Vierkantbauernhof. Der oft als Misanthrop verunglimpfte "Alpen-Beckett" erscheint da als geselliger Gastgeber, der seine Gäste mit Most und Kletzenbrot zu verwöhnen pflegte.

Dass Thomas Bernhard in Österreich heute beinah als Nationaldichter verehrt wird, findet Aichinger zum Lachen. Dieselben Leute, die Bernhards kunstvolle Schimpftiraden heute begeistert akklamieren, hätten den Schriftsteller einst von Herzen angefeindet und verhöhnt, erinnert sich Ilse Aichinger.

"Sie würden ihn natürlich, wenn er noch am Leben wäre, weiter verfemen. Er ist kein Nationalschriftsteller. Er hat sich immer dagegen gewehrt, ein solcher zu sein. Er hat ja immer geschimpft über dieses Land."

Thomas Bernhard: "Wenn man einmal sein Herz an die Heimat gehängt hat, genügt das ja. Dann kann man's ja verschimmeln lassen an der Wand, an der Mauer, wo's hängt. Ich hab's ja ein für allemal drang'hängt an das Haus Österreich. Da hängt's jetzt. Muss man halt abwarten. Manchmal tropft noch ein Tropferl Blut heraus."

Auch Ilse Aichinger hat unangenehme, mehr als unangenehme Erfahrungen gemacht mit ihrer Heimat Österreich. Die Schreckensjahre des Nationalsozialismus, die sie als junges Mädchen in Wien erlebt und durchlitten hat, irrlichtern immer wieder durch ihre Texte, als beklemmende, belastende, bedrängende Erinnerungen.

Ilse Aichinger: "Ich hab einmal in diesem Proustschen Fragebogen gesagt, dass der Zweite Weltkrieg meine glücklichste Zeit war. Obwohl ich gesehen hab, dass man meine Angehörigen weggeschleppt hat in Viehwägen, hab ich ganz sicher daran geglaubt, dass sie wiederkommen. Deshalb war auch die Zeit NACH dem Zweiten Weltkrieg für mich die schwierigste, weil kein Mensch zurückgekommen ist."

Die Toten spielen eine wichtige Rolle in Aichingers Texten: Immer wieder beschwört die Dichterin Reminiszenzen an ihre Mutter und die geliebte Großmutter herauf, an Günter Eich, ihren 1972 verstorbenen Mann, und an Clemens Eich, ihren Sohn. Zu den Toten habe sie ein spezielles Verhältnis, sagt Ilse Aichinger.

"Ich glaube, dass sie auf irgendeine Weise da sind, aber nicht auf eine Weise, die mir zugänglich ist."

Vor dem Tod, bekennt Ilse Aichinger, habe sie keine Angst, sehr wohl aber vor dem Sterben.

"Weil Tod und Sterben Gegensätze sind. Das Sterben ist ein Teil des Lebens, der entscheidende Teil vielleicht, während der Tod das absolute Ende von allem ist. Ich habe mir immer nur eines gewünscht: weg zu sein, einfach weg und nie wieder aufzutauchen."

Zurzeit erholt sich Ilse Aichinger in einem Sanatorium in am westlichen Stadtrand Wiens von einer Erkrankung, die sie in ihrer Bewegungsfreiheit immer noch erheblich einschränkt. In ein paar Wochen, da ist sich die Autorin sicher, wird sie wieder in ihre Wohnung in der Herrengasse zurückkehren. Spätestens dann wird Ilse Aichinger auch die Besuche im Café Demel wieder aufnehmen. Die Zeit im Sanatorium vertreibt sie sich einstweilen mit Lesen, mit Scrabble Spielen und Musikhören – vor allem aber: mit Schreiben.

Ilse Aichinger: "Das Schreiben spielt die Rolle, dass es mir vielleicht vorkommt, als hätte alles einen gewissen Sinn. Wenn mir zwei oder drei Sätze gelingen, dann habe ich das Gefühl, meine Existenz wäre nicht völlig absurd, als bliebe noch ein Funken Sinn übrig."

Ilse Aichinger: "Unglaubwürdige Reisen"
herausgegeben von Simone Fässler und Franz Hammerbacher
S. Fischer Verlag, 190 Seiten, 25 Abbildungen, EUR 17,90