Neue deutsche Gefühle?
Zu den eigentümlichsten Bewegungen der Globalisierung gehören ihre antiglobalistischen Unterströmungen. Je dichter die Welt zusammenrückt, desto weiter fällt sie auseinander. Je mehr sich alles angleicht auf dem Markt, desto stärker das Bedürfnis nach Unterscheidung. Kurz: Je internationaler die Welt, desto nationaler das Gefühl.
Auf unserm Weg in die erdumspannende Nivellierung der Märkte und Systeme bilden sich auch diesseits der dschihadistischen Angriffe lauter Strudel, lauter kleine Blockaden und Momente des Innehaltens, lauter Impulse des Sträubens und der Selbstvergewisserung.
Die kann jeder schon an sich selber beobachten, der sich auf die Website von www.google.earth klickt und kühn ins All hinausgeht: Man hat den ganzen Planeten vor sich, aber man versucht zuerst, das eigene Land zu orten. Man hat alle Kontinente im Angebot, aber man schaut nach der eigenen Nachbarschaft und besucht die eigene Straße wie ein Fremder und versucht, sich auf den Kopf zu schauen, und das ist genau das, wovon der Prinz träumt in Büchners "Leonce und Lena".
Man will kennen lernen, wo man herkommt, und oft ist das das eigentlich Unbekannte. Die spannendste Frage in diesen Zeiten der Migrantenströme und Einbürgerungstests und Zugehörigkeitsbestimmungen lautet: Wer sind wir?
In den USA ist Sam Huntingtons "Who are we?" ein Bestseller. In Großbritannien hält Schatzkanzler Gordon Brown Grundsatz-Referate über "Britishness". Dänemark stellt der internationalen Presse seinen Kulturkanon vor. Und Frankreich und Holland beschließen in Volksabstimmungen, zunächst einmal nicht Europäer zu sein, sondern Franzosen und Holländer. Das Konstrukt "Nation" wird neu überprüft, und alle stellen sich die Frage nach dem Eigenen, sogar wir Deutschen.
Ja, sogar wir. Dabei waren wir bisher ganz unbestritten die Analphabeten des nationalen Gefühls. Wir waren es, seit wir einmal zu tief in diese Pulle gestarrt haben. Danach haben wir uns abstinent verhalten bis hin zu einer immer wieder bedauerten prekären Schwächung des Wir-Gefühls. In allen Rankings, in denen patriotische Gefühle abgefragt werden, rangiert Deutschland abgeschlagen hinten.
"Nie wieder Deutschland" war über Jahrzehnte hinweg eine mehrheitsfähige Parole, zumindest unter deutschen Publizisten. Wer immer sich ein Häuschen in wärmeren Gegenden zusammengeschrieben hatte, genoss sich selbstgefällig als Exilant und stellte sich damit mondän in eine Reihe mit großen Widerständlern gegen den deutschen Untertanengeist. Italienische, polnische, französische Intellektuelle hielten das antideutsche Ressentiment der deutschen Kollegen stets für neurotisch, amerikanische erst recht.
Doch in den letzten 15 Jahren hat sich die Welt gedreht. Der Fall der Blöcke hat die Geschwindigkeit beschleunigt, in der alles ineinander stürzt, und unter der Herausforderung der durch die Globalisierung erzeugten Parallelgesellschaften ist die Frage, was das Eigene ist, wieder akut.
Ja, das macht die gegenwärtige Debatte um die Einbürgerung besonders für uns Deutsche so erfrischend: Sie dreht sich im Kern nicht um türkische Einwanderer, sondern um uns selber. Es geht nicht darum, ob russische Migranten den Einbürgerungstest schaffen, sondern wir Deutsche. Nicht deren Loyalität steht zur Debatte, sondern unsere eigene.
Die türkische Schriftstellerin Mely Kiyak bringt es in der "Zeit" auf den Punkt: "Wieso erwartet man von uns überhaupt, dass wir uns mit Deutschland identifizieren, wenn selbst die Deutschen es nicht tun?"
Gute Frage. Die Deutschlandverachtung haben wir trainiert. Aber was wäre Deutschlandliebe? Was wäre das, was wir da lieben sollen? Was wollen wir unter dem Eindruck der Parallelgesellschaften und gescheiterten Integrationen verteidigen? Das Recht auf billigen Zahnersatz? Oder geht das tiefer?
Das gegenwärtige Unglück liegt genau darin begründet, dass der Patriotismus den Deutschen in den letzten Jahrzehnten nur als Verfassungspatriotismus erlaubt war, als Bekenntnis zu Parlament und Gleichheit vor dem Gesetz, zu einem wichtigen aber faden Sammelsurium von Selbstverständlichkeiten wie der, keine Frauen zu schlagen, die für jede andere aufgeklärte Nation auf dem Erdball ebenfalls gelten.
Das "Deutsche", das in Einbürgerungstests von hilflosen Verwaltungsbeamten abgefragt wird, ist ein politisch korrektes, von kulturellen Identifikationen absolut gereinigtes Konstrukt, das sich die Grundsatzkommissionen der Jusos und der Grünen in den letzten Jahrzehnten als universell kompatiblen Idealtypen zurechtgebastelt haben. Das ermöglicht Siege an der Integrationsfront, verhindert Niederlagen aber nicht.
Die Sprache zum Beispiel. Während wir noch mit Abstraktionen und Menschenrechtserklärungen um uns schmeißen, hat die Gegenbewegung längst stolze Geländegewinne zu vermelden. Kanak, diese lustige Türkenproll-Entsprechung zum schwarzen Ghetto-Slang, hat längst die Schulhöfe und die Discos erobert. Es ist regelrecht uncool geworden, richtig deutsch zu reden.
"Niemand hat die Türken aufgefordert, sich mit deutscher Kultur zu beschäftigen", meinte Necla Kelek jüngst. "Die Linke hat bis heute nicht damit begonnen, die Schutzglocke zu lüften."
Die türkische Intelligenz selber also setzt sich bei uns gegen die linken Versteher zur Wehr. Doch die haben noch längst nicht fertig mit ihrem "Nie wieder Deutschland"-Programm. In einem Flammenartikel wurde kürzlich in einer Sonntagszeitung gefordert, der deutsche Staat solle "Islamschulen und Moscheen" bauen, sowie islamische Rundfunkräte institutionalisieren.
Das ist immer wieder erstaunlich: Diejenigen, die sonst so aggressiv auf der Trennung von Staat und Kirche bestehen, bekommen angesichts des Islam weiche Knie. Die katholischen Kirchen werden als Bollwerke der Reaktion gesehen, doch angesichts einer Koranschule schimmert dem Multikulti-Versteher das Auge. Wie lächerlich wollen wir uns noch machen?
Matthias Matussek, Jahrgang 1954, studierte Amerikanistik und Germanistik in Berlin; er kam über den Berliner "Abend" und den "Stern" zum Hamburger "Spiegel", er ist dort seit 2005 einer der beiden Leiter der Kulturredaktion. Vom Fall der Berliner Mauer bis zum Tag der Deutschen Einheit berichtete Matussek als Sonderkorrespondent aus Ost-Berlin und wurde 1991 mit dem "Egon-Erwin-Kisch-Preis" ausgezeichnet. Er leitete die Büros des "Spiegel" in New York, Rio de Janeiro und London, hielt Gastvorträge an amerikanischen Universitäten und schrieb Kolumnen für US-Zeitungen. Buchveröffentlichungen u.a.: "Fifth Avenue", Kurzgeschichten (1995) und "Die vaterlose Gesellschaft - Überfällige Anmerkungen zum Geschlechterkampf" (1998). Nach einer Idee von Matussek entstand der Film "Väter". Gerade bei S. Fischer erschienen ist "Wir Deutschen. Warum uns die anderen gern haben können".
Die kann jeder schon an sich selber beobachten, der sich auf die Website von www.google.earth klickt und kühn ins All hinausgeht: Man hat den ganzen Planeten vor sich, aber man versucht zuerst, das eigene Land zu orten. Man hat alle Kontinente im Angebot, aber man schaut nach der eigenen Nachbarschaft und besucht die eigene Straße wie ein Fremder und versucht, sich auf den Kopf zu schauen, und das ist genau das, wovon der Prinz träumt in Büchners "Leonce und Lena".
Man will kennen lernen, wo man herkommt, und oft ist das das eigentlich Unbekannte. Die spannendste Frage in diesen Zeiten der Migrantenströme und Einbürgerungstests und Zugehörigkeitsbestimmungen lautet: Wer sind wir?
In den USA ist Sam Huntingtons "Who are we?" ein Bestseller. In Großbritannien hält Schatzkanzler Gordon Brown Grundsatz-Referate über "Britishness". Dänemark stellt der internationalen Presse seinen Kulturkanon vor. Und Frankreich und Holland beschließen in Volksabstimmungen, zunächst einmal nicht Europäer zu sein, sondern Franzosen und Holländer. Das Konstrukt "Nation" wird neu überprüft, und alle stellen sich die Frage nach dem Eigenen, sogar wir Deutschen.
Ja, sogar wir. Dabei waren wir bisher ganz unbestritten die Analphabeten des nationalen Gefühls. Wir waren es, seit wir einmal zu tief in diese Pulle gestarrt haben. Danach haben wir uns abstinent verhalten bis hin zu einer immer wieder bedauerten prekären Schwächung des Wir-Gefühls. In allen Rankings, in denen patriotische Gefühle abgefragt werden, rangiert Deutschland abgeschlagen hinten.
"Nie wieder Deutschland" war über Jahrzehnte hinweg eine mehrheitsfähige Parole, zumindest unter deutschen Publizisten. Wer immer sich ein Häuschen in wärmeren Gegenden zusammengeschrieben hatte, genoss sich selbstgefällig als Exilant und stellte sich damit mondän in eine Reihe mit großen Widerständlern gegen den deutschen Untertanengeist. Italienische, polnische, französische Intellektuelle hielten das antideutsche Ressentiment der deutschen Kollegen stets für neurotisch, amerikanische erst recht.
Doch in den letzten 15 Jahren hat sich die Welt gedreht. Der Fall der Blöcke hat die Geschwindigkeit beschleunigt, in der alles ineinander stürzt, und unter der Herausforderung der durch die Globalisierung erzeugten Parallelgesellschaften ist die Frage, was das Eigene ist, wieder akut.
Ja, das macht die gegenwärtige Debatte um die Einbürgerung besonders für uns Deutsche so erfrischend: Sie dreht sich im Kern nicht um türkische Einwanderer, sondern um uns selber. Es geht nicht darum, ob russische Migranten den Einbürgerungstest schaffen, sondern wir Deutsche. Nicht deren Loyalität steht zur Debatte, sondern unsere eigene.
Die türkische Schriftstellerin Mely Kiyak bringt es in der "Zeit" auf den Punkt: "Wieso erwartet man von uns überhaupt, dass wir uns mit Deutschland identifizieren, wenn selbst die Deutschen es nicht tun?"
Gute Frage. Die Deutschlandverachtung haben wir trainiert. Aber was wäre Deutschlandliebe? Was wäre das, was wir da lieben sollen? Was wollen wir unter dem Eindruck der Parallelgesellschaften und gescheiterten Integrationen verteidigen? Das Recht auf billigen Zahnersatz? Oder geht das tiefer?
Das gegenwärtige Unglück liegt genau darin begründet, dass der Patriotismus den Deutschen in den letzten Jahrzehnten nur als Verfassungspatriotismus erlaubt war, als Bekenntnis zu Parlament und Gleichheit vor dem Gesetz, zu einem wichtigen aber faden Sammelsurium von Selbstverständlichkeiten wie der, keine Frauen zu schlagen, die für jede andere aufgeklärte Nation auf dem Erdball ebenfalls gelten.
Das "Deutsche", das in Einbürgerungstests von hilflosen Verwaltungsbeamten abgefragt wird, ist ein politisch korrektes, von kulturellen Identifikationen absolut gereinigtes Konstrukt, das sich die Grundsatzkommissionen der Jusos und der Grünen in den letzten Jahrzehnten als universell kompatiblen Idealtypen zurechtgebastelt haben. Das ermöglicht Siege an der Integrationsfront, verhindert Niederlagen aber nicht.
Die Sprache zum Beispiel. Während wir noch mit Abstraktionen und Menschenrechtserklärungen um uns schmeißen, hat die Gegenbewegung längst stolze Geländegewinne zu vermelden. Kanak, diese lustige Türkenproll-Entsprechung zum schwarzen Ghetto-Slang, hat längst die Schulhöfe und die Discos erobert. Es ist regelrecht uncool geworden, richtig deutsch zu reden.
"Niemand hat die Türken aufgefordert, sich mit deutscher Kultur zu beschäftigen", meinte Necla Kelek jüngst. "Die Linke hat bis heute nicht damit begonnen, die Schutzglocke zu lüften."
Die türkische Intelligenz selber also setzt sich bei uns gegen die linken Versteher zur Wehr. Doch die haben noch längst nicht fertig mit ihrem "Nie wieder Deutschland"-Programm. In einem Flammenartikel wurde kürzlich in einer Sonntagszeitung gefordert, der deutsche Staat solle "Islamschulen und Moscheen" bauen, sowie islamische Rundfunkräte institutionalisieren.
Das ist immer wieder erstaunlich: Diejenigen, die sonst so aggressiv auf der Trennung von Staat und Kirche bestehen, bekommen angesichts des Islam weiche Knie. Die katholischen Kirchen werden als Bollwerke der Reaktion gesehen, doch angesichts einer Koranschule schimmert dem Multikulti-Versteher das Auge. Wie lächerlich wollen wir uns noch machen?
Matthias Matussek, Jahrgang 1954, studierte Amerikanistik und Germanistik in Berlin; er kam über den Berliner "Abend" und den "Stern" zum Hamburger "Spiegel", er ist dort seit 2005 einer der beiden Leiter der Kulturredaktion. Vom Fall der Berliner Mauer bis zum Tag der Deutschen Einheit berichtete Matussek als Sonderkorrespondent aus Ost-Berlin und wurde 1991 mit dem "Egon-Erwin-Kisch-Preis" ausgezeichnet. Er leitete die Büros des "Spiegel" in New York, Rio de Janeiro und London, hielt Gastvorträge an amerikanischen Universitäten und schrieb Kolumnen für US-Zeitungen. Buchveröffentlichungen u.a.: "Fifth Avenue", Kurzgeschichten (1995) und "Die vaterlose Gesellschaft - Überfällige Anmerkungen zum Geschlechterkampf" (1998). Nach einer Idee von Matussek entstand der Film "Väter". Gerade bei S. Fischer erschienen ist "Wir Deutschen. Warum uns die anderen gern haben können".