Neue Biografie über Johannes Paul II.

Vom Hobbyschauspieler zum Kirchenoberhaupt

24:18 Minuten
Johannes Paul II. mit wehendem roten Umhang im päpstlichen Ornat.
Erst zog es ihn auf die Bühne, dann sprach er in Gottes Namen: Johannes Paul II., Papst von 1978 bis 2005. © picture alliance / KPA
Matthias Drobinski und Thomas Urban im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 15.03.2020
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Mann mit Esprit und Werkzeug Gottes: Karol Wojtyła wuchs sehr katholisch auf, begeisterte sich aber zunächst mehr für Literatur und Theater. Viele Themen seiner Jugend in Polen prägten auch sein Pontifikat, wie eine neue Biografie zeigt.
Anne Françoise Weber: Gott habe ihn gewählt, um die Kirche ins 3. Jahrtausend führen, so hatte es der polnische Primas Wyszyński dem frisch gewählten Johannes Paul II. prophezeit – und nicht nur das tat der Pole Karol Wojtyła. 1978 wurde er als erster Nichtitaliener nach 455 Jahren zum Papst gewählt. In seinem Pontifikat, das über ein Vierteljahrhundert dauerte, hat er die katholische Kirche ganz entscheidend geprägt – und auch in der Weltpolitik mitgemischt.
Welche Grundüberzeugungen er dabei hatte, wie diese von seiner Herkunft bestimmt waren und was die Leitlinien seines Pontifikats waren, darüber möchte ich jetzt mit den Autoren eines neuen Buches sprechen, es heißt: "Johannes Paul II. - Der Papst, der aus dem Osten kam". Matthias Drobinski ist Journalist und bei der "Süddeutschen Zeitung" zuständig für Religionsthemen, Thomas Urban, ebenfalls Autor der SZ, war von 1988 bis 2012 Korrespondent in Osteuropa.
Herr Urban, prägend war für den jungen Karol Wojtyła sicher der frühe Verlust seiner Mutter. Wir wollen jetzt nicht zu sehr in die Küchenpsychologie einsteigen, trotzdem ist es interessant zu schauen, ob es da Linien gibt, die sich bis in sein Pontifikat verfolgen lassen. Und eine ganz wichtige Komponente seiner eigenen Frömmigkeit war sicherlich diese starke Beziehung zu Maria, der Mutter Jesu. Sehen Sie da eine Verbindung, weiß man etwas über seine Mutterbeziehung?
Thomas Urban: Er hat selbst über seine Mutter gesagt, sie war eine kranke, verhärmte Frau und hatte nur wenig Zeit für mich. Er war neun Jahre alt, als die Mutter gestorben ist. Aber seine Marienverehrung, so denke ich, ging nicht nur hervor aus der Trauer über den Verlust der Mutter, dass die Maria, die Mutter Gottes, praktisch die Mutter in seinem Bild, in seiner Vorstellung ersetzt hat, sondern es war auch Familientradition. Schon sein Vater und sein Großvater haben in ihrer Heimat, in der polnischen Kleinstadt Wadowice Krakau, Marienprozessionen und Marienwallfahrten angeführt.

Bildung war dem Vater wichtig

Weber: Und das war also ein sehr frommes Milieu, war es auch ein bürgerliches Milieu? Wie muss man sich diese Familie vorstellen?
Urban: Es war ein kleinbürgerliches Milieu. Der Vater war Soldat bei den kaiserlich-königlichen österreichischen Streitkräften. Krakau gehörte ja bis 1918 zu Österreich. Er war ein Zahlmeister, also nicht bei der kämpfenden Truppe.
Er war ein sehr belesener Mann, hat die großen Klassiker der Weltliteratur gelesen, auch die ganzen polnischen Klassiker. Er war aber kein Intellektueller. Der Großvater war ein einfacher Mann, ein Handwerker. Aber durch seinen Vater hat Karol Wojtyła beigebracht bekommen: Durch Bildung kommst du weiter. Und das hat er sein ganzes Leben gemacht.
Weber: Bevor wir auf den Bildungsweg gucken, Herr Drobinski, würde ich gern auf die Freunde und Freundinnen schauen, die Wojtyła in seiner Jugend hatte. Da waren viele Jüdinnen und Juden dabei, weil das einfach eine Bevölkerungsgruppe war, die da ganz natürlich mit den Christinnen und Christen zusammenlebte. Ist das etwas, was wir bis ins Pontifikat verfolgen können, diese interreligiöse Offenheit, die man doch bei diesem Papst gesehen hat, die möglicherweise auch darauf zurückzuführen ist?
Matthias Drobinski: Ja, es gibt, glaube ich, zwei Sachen, die mir immer wieder aufgefallen sind. Das eine ist seine Fähigkeit, Freundschaften zu schließen und auch zu halten, also auch zum Beispiel später zu der Theatergruppe, zu den Mitgliedern da, bis ins Pontifikat rein. Auch als Papst war völlig klar: Das war der Lolek für die.
Karol Wojtyła, der spätere Papst Johannes Paul II, steht in Freizeitkleidung neben zwei Fahrrädern während seines Camping-Urlaubs, den er im Gebiet der Masurischen Seenplatte verbrachte.
Drahtesel statt Papamobil: Der junge Karol Wojtyła macht Urlaub an der Masurischen Seenplatte.© dpa / Polska Agencja Interpress
Und auch zu den jüdischen Freundinnen und Freunden gab es bis zum Schluss wirklich innige Beziehungen. Johannes Paul II. war ein begeisterter Fußballspieler, er war Torwart. Und wenn in der jüdischen Mannschaft der Torwart fehlte, war das völlig klar, dass er da hin ging. Das gehörte zum Teil des täglichen Lebens.

Klare Haltung gegen Antisemitismus

Weber: Und das hieß also nicht nur: Das sind meine Freunde, mit denen mache ich das, sondern er hat sich auch ganz bewusst gegen Antisemitismus gestellt, der ja durchaus auch in der polnischen Gesellschaft damals schon vorhanden war.
Drobinski: Ja, den gab es und der war auch immer virulent. Und das war für ihn völlig klar: Das ist wirklich hart und klar abzulehnen.
Urban: Wobei man da auch darauf hinweisen sollte, dass dies das Erbe des großen polnischen Romantikers Mickiewicz ist, dessen Werk einen großen Einfluss auf den jungen Wojtyła hatte. Mickiewicz hat gesagt, die Juden sind die älteren Brüder der Christen. Und diesen Satz hat Johannes Paul II. später oft wiederholt.
Drobinski: 1986 hat er es in der römischen Synagoge gesagt, als er da eingeladen war und ein neues Kapitel der jüdisch-christlichen Beziehung aufgeschlagen hat.
Weber: Wenn wir jetzt genau auf die polnische Literatur kommen, Herr Urban, die war auch ganz entscheidend für den jungen Wojtyła, er hat sie verschlungen, er hat sich daraus inspiriert. Das war auch das, was er zuerst studieren wollte, also er war an der Theologie am Anfang gar nicht so interessiert, dass er sich als Priester vorgestellt hätte?
Urban: Er hat polnische Literatur und Theaterwissenschaften studiert im ersten Semester. Sein Leitfaden waren die Romantiker, und er war inspiriert vom polnischen Messianismus. Das waren Mickiewicz, Słowacki und Norwid. Bei allen Unterschieden, die es zwischen den dreien gab, sie hatten einen Hauptgedanken: Polen war im 19. Jahrhundert, als diese drei lebten, ja geteilt unter den drei Nachbarn, unter Preußen, Russland, Österreich.

Polen sollte andere Völker erlösen

Die Idee war: Wir sind ein christliches Volk, wir müssen jetzt leiden, es kommt eines Tages die Erlösung, es wird wieder einen polnischen Staat geben, dieser Staat wird dann für die Erlösung aller anderen Völker sorgen, aber wir erreichen diesen Staat nur, indem wir beten und gute Christen sind. Dieser Messianismus hat ihn lange geprägt, auch noch die ersten Jahre als Papst. Aber dann gab es einige Momente, wo man sagen kann, das waren Schlüsselerfahrungen, dass er sich von diesem polnischen Blick auf Religion abgewandt hat und sich geöffnet hat für die Internationalität der Kirche.
Porträt von Thomas Urban.
Leid und Unrecht unter deutscher Besatzung bewegten den späteren Papst dazu, Priester zu werden, sagt sein Biograf Thomas Urban.© privat
Weber: Er war ja auch für die Weltkirche zuständig, das war vielleicht auch ein Faktor.
Urban: Er war auch für die Weltkirche zuständig, aber in den 80er Jahre bis zur Wende 1989/90 hat er einen großen Platz Polen eingeräumt, und er hat auch Polen bei Besuchen in anderen Ländern als Vorbild angepriesen.
Weber: Wenn wir jetzt noch mal einen Schritt zurückgehen in seine Studienzeit, da war durchaus auch die polnische Geschichte ein Faktor dafür, dass er sich dann doch für das Priesteramt entschieden hat und für das Studium der Theologie. Das war nämlich unter der deutschen Besatzung, die er ja auch wirklich am eigenen Leib ganz stark erlebt hat.
Urban: Das war ganz sicher seine Erfahrung in der Besatzung, er hat Leid, Unrecht gesehen. Er wurde Zeuge, wie in seiner unmittelbaren Umgebung immer mehr Leute verschwunden sind, zur Zwangsarbeit ins KZ, oder sogar umgebracht worden sind. Dieses Leid, dieses Martyrium seiner Landsleute hat ihn bewegt, Priester zu werden.
Drobinski: Er hat ja auch selber dann im Steinbruch gearbeitet, wurde selber auch zur Zwangsarbeit eingezogen und hat da auch sehr viele Mystiker gelesen: Johannes von Kreuz, das war auch diese Mischung aus Arbeit, aus Erfahrung auch von existenziellen Bedrohungen und der Lektüre von einer religiösen Literatur, die sagt: Der Glaube kommt aus der Erfahrung, also er kommt nicht aus der intellektuellen Beschäftigung mit irgendetwas, sondern ist die existenzielle Erfahrung des Lebens, in all seinen Gefährdungen, in all seinen Grenzen, das war bei Johannes von Kreuz auch sehr stark.
Das hat ihn schon auch dazu gebracht, zu sagen: Das muss ich machen – obwohl ja alle immer dachten, er wird Schauspieler. Da war er begabt, da war er toll, da hielt er die Schauspieltruppe zusammen, aber er entschied sich zur Überraschung vieler anders.

Wojtyła las Klassiker des Sozialismus

Weber: Zunächst noch mal bei der polnischen Geschichte geblieben, nach 1945 also dann die kommunistische Herrschaft, auch das hat ihn stark geprägt, dass da Kirche eine ganz bestimmte Rolle hatte, überwacht wurde. Das war etwas, was ihn in seiner Gegenüberstellung, in seiner Konfrontation mit dem Marxismus später auch ganz entscheidend geprägt hat, oder?
Urban: Er hat schon während des Krieges, so schwer das auch war, Klassiker des Sozialismus gelesen. Ihn interessierte nach dem Krieg die Auseinandersetzung mit der Idee des Sozialismus, und er hat gesehen, dass die Stalinisten, die nach dem Krieg in Polen die Macht ergriffen hatten, wie sie die verraten haben.
Es gibt von ihm Aussagen, das bezeugen Zeitzeugen, dass er als junger Kaplan gesagt hat: Ich habe nichts gegen die Idee des Sozialismus, die ist dem Christentum in vielen Punkten sehr, sehr ähnlich, und da könnten wir gemeinsame Lösungen finden, aber das, was jetzt die Kommunisten machen, das ist eine Lüge und das ist ein Verrat an den sozialistischen Ideen.
Weber: Herr Drobinski, wenn wir jetzt auf seine Anfänge als Seelsorger schauen, dann ist da sehr auffällig, dass er sich mit vielen jungen Leuten sehr eng unterhalten hat, mit denen Skifahrten oder Kanufahrten oder sonst was gemacht hat, dass er einfach ein guter Seelsorger war, und dass da das Thema Sexualität ihn auch schon beschäftigt hat, weil es vermutlich diese jungen Menschen auch beschäftigt hat.
Er hat Ehevorbereitungskurse gemacht und so weiter, er hat eine erste Schrift über Sexualität geschrieben, die doch noch etwas offener scheint als das, was wir später von ihm als Papst kennen. Diese sehr strenge Ablehnung von Abtreibung, von Verhütungsmitteln, das mag da schon angelegt sein, trotzdem schien er da noch mehr bei den Menschen zu sein.
Der Journalist und Autor Matthias Drobinski
Sex ist gottgefällig, aber nur in der Ehe: So sah es Papst Johannes Paul II., sagt Religionsjournalist Matthias Drobinski.© Alessandra Schellnegger / Süddeutsche Zeitung Photo
Drobinski: Ja, ich glaube, er hatte auch schon den Eindruck, dass das, was er schreibt, nah bei den Menschen ist, nur die Menschen entfernten sich irgendwann. Man sieht, er war jemand, der sehr gerne einfach mit Menschen zusammen war, mit jungen Leuten, auch mit Jüngeren dann oder mit Leuten, die gleichaltrig waren.
Er war überhaupt nicht vergeistigt oder so, sondern ein guter Sportler, er hatte so ein Faltboot, so ein Kajak, mit dem ist er losgezogen, dann haben sie den FB, den polnischen Geheimdienst immer genarrt: Einer fuhr voraus, einer fuhr woanders hin, also so ein Katz- und Mausspiel. Das alles fand er toll, faszinierend, auch die tiefen Gespräche mit Jugendlichen.

Sexualität als Wonne – aber nur in der Ehe

Und dann hat er diese Schrift geschrieben, "Liebe und Verantwortung", die wurde später ins Deutsche übersetzt. Und das weiß der Thomas besser als ich, der hat gesagt: Die deutsche Übersetzung hat die schlimmsten Stellen entschärft, die da im Polnischen drin waren, wo es ganz klar heißt: Liebe, Sexualität ist auch eine Erfüllung, sie darf, sie soll Spaß machen.
Weber: Also die schlimmsten Stellen im Sinne von die offensten Stellen?
Drobinski: Die offensten Stellen, ja.
Urban: In der Ursprungsversion ist die Rede von "sexueller Wonne". In der deutschen steht nur "Annehmlichkeit", das ist schon abgeschwächt.
Drobinski: Sozusagen ein klares Ja zur Lust. Allerdings für ihn – und das war auch immer genau wie bei anderen – innerhalb der katholisch geschlossenen Ehe. Da hat er sich, glaube ich, gar nicht verändert, sondern das hat er dann später sogar noch mal verfeinert. Er hat gesagt, innerhalb dieser Ehe ist der alte Ehezweck, den so die klassische katholische Theologie propagierte, nämlich die Zeugung gesunden Nachwuchses. Diese Ehe muss offen dafür sein, aber das kann nicht der einzige Zweck sein.
Der Zweck muss sein, Partnerin und Partner aneinander zu binden, eine innige Beziehung zu haben, er wird da richtig poetisch, wenn er über Beziehungen schreibt. Wenn das aber gebrochen wird dadurch, dass es vorehelichen Geschlechtsverkehr gibt, dass es Sexualität außerhalb der Ehe gibt, dass es Homosexualität gibt, alles dies ist im Grunde so ein bisschen auch der Verrat an dieser personalen Liebe.
Das heißt, das ist beides angelegt in der ersten Schrift, auf der einen Seite diese ganz hohe Bewertung von Sexualität als Wonne, als Ausdruck der Persönlichkeit, als Ausdruck der Schöpfungsfreude. Auf der anderen Seite dann: Was ist, wenn das außerhalb ist - dann ist auch genau das im Grunde verraten.

Keine Solidarność ohne Papstbesuch

Weber: Johannes Paul II., das war ein Kirchenoberhaupt, das ganz entscheidend auch den Gang der Geschichte geprägt hat, vor allem auch beim Fall der Mauer. Den Anfang muss man auch hier in seiner Zeit in Polen suchen. Wie groß war denn seine Rolle beim Aufstieg der Gewerkschaft Solidarność, Herr Urban?
Urban: Es hätte die Solidarność ohne den Besuch des Papstes 1979 nicht gegeben. Im Herbst 1978 wurde er gewählt, ein halbes Jahr später besuchte er seine Heimat. Zehn Millionen Menschen, jeder zweite erwachsene Pole, sehen ihn bei den Stationen auf der Reise durch das Land, die Parteiführung ist entsetzt, sie hat die Kontrolle verloren. Und ein Jahr später, im August 1980, entsteht die Solidarność, wahrgenommen im Westen als irgendeine romantische Vereinigung, die man am Anfang gar nicht ernst genommen hat.
Weber: Und er hat es mit seinen Netzwerken, was wir vorhin schon hatten, er kam einfach schnell mit Leuten ins Gespräch, hat sich da Freundschaften geschaffen, politische Verbindungen, das hat ihm natürlich auch für diese politischen Geschichten genutzt, oder? Zum Beispiel, dass er sich mit Herrn Reagan gut verstanden hat, das wird vermutlich auch seinen Einfluss noch vergrößert haben.
Urban: Das hat sicherlich eine Rolle gespielt, aber der Papst hat seinen polnischen Landsleuten eine ganz wichtige Botschaft gegeben, er hat gesagt: Organisiert keine Rebellion, wie das eure Tradition war - die Polen haben sich ja im 19. Jahrhundert und auch im Zweiten Weltkrieg wiederholt erhoben gegen Besatzer, gegen Fremdherrschaft, das endete immer in Blutvergießen. Sondern der Papst hat die politische Botschaft gegeben, wir erreichen das Ziel nur, nämlich die staatliche Unabhängigkeit und eine Demokratisierung, durchaus eine Demokratisierung im westlichen Sinne, durch passiven Widerstand. Und das haben die Polen dann befolgt.

Die kommunistische Partei unterschätzte ihn

Drobinski: Das hat, glaube ich, auch die kommunistische Partei dramatisch unterschätzt. Ich erinnere mich noch an die Zeit, wo er zum Bischof gewählt werden sollte, wo die Kommunisten ja auch die Illusion hegten, da ist jemand, der kann uns eigentlich gar nicht gefährlich werden, der hat ja auch mal was Gutes über den Kommunismus gesagt.
Sie haben die kulturelle Distanz, die er hatte, gar nicht begriffen, und diesen kulturellen Widerstand gegen den Materialismus der kommunistischen Herrscher, sozusagen, dass der Mensch die Summe der Gegebenheiten, die Summe seiner Umstände sei - wo er gesagt hat: Der Mensch strebt nach Höherem. Das reicht nicht, der Mensch ist frei, er strebt auch nach dieser Freiheit, dass dagegen im Grunde kein Geheimdienst und niemand ankam.
Das, glaube ich, war auch noch mal so eine Situation, auf die 1979 die kommunistische Partei, der Geheimdienst überhaupt nicht vorbereitet war. Er war darauf vorbereitet, auf eine Gegenideologie zu kommen, die antikommunistisch daherkommt, aber dass jemand sagt: Es gibt etwas ganz anderes und das ist stärker als alles, was ihr da macht. Das hat die, glaube ich, einfach auf dem linken Fuß erwischt.
Weber: Und daraus hat er seinen großen Appell eben für die Freiheit, für die Menschenrechte gespeist. Gleichzeitig hat er aus diesem Denken diese für uns sehr konservativen Ansichten über das Verbot von Verhütungsmitteln und so weiter genommen. Sie schreiben, es sei die gleiche Quelle, der christliche Humanismus und die Lehre von der Personalität. Können Sie noch einmal kurz erklären, wie das zusammenpasst?
Drobinski: Ich glaube, dass das, was wir als widersprüchlich an diesem Papst erleben, die Kapitalismuskritik auf der einen Seite, die ja auch dann zunehmend rauskam - er war ja nicht nur ein Kommunismuskritiker, sondern auch gerade nach der Wende scharfer Kapitalismuskritiker.
Dahinter steckte schon die Vorstellung, dass der Mensch im Grunde über den Materialismus hinausgeht, aufgrund seines Menschseins zu Höherem strebt, dazu sich mit aus seiner Sicht Gott zu verbinden, ihm nahezukommen auch durch die Erfahrung, durch die mystische Erfahrung, und dass das alles bedroht wird durch Materialismus – und zwar durch den des Kommunismus und durch den des Westens.
Von daher war für ihn beides eine große Gefahr, die des Kommunismus ganz real, indem sie auch Freiheiten begrenzte, indem sie diktatorische Züge aufwies wie die kommunistischen Diktaturen des Ostens, aber auch im Westen, diese Freizügigkeit, das erschreckte ihn auch. Und da gehörte schon auch das Thema Sexualität, das Thema Konsum rein.
Für ihn war immer die große Gefahr, wenn der Mensch frei ist, einfach Sexualität zu konsumieren und das nicht mehr an die Zeugung gebunden ist, dann gibt es für ihn kein Halten mehr, dann hat dieser Konsumismus freie Bahn – und dann ist die Menschenwürde für ihn gefährdet. Das, was wir auf der einen Seite als fundamentalistisch empfinden, war auf der anderen Seite das, was wir als interessanterweise als kommunismuskritisch und kapitalismuskritisch empfinden.

Missbrauch - dramatische Fehlentscheidungen

Weber: Erstaunlich ist ja, dass bei diesen Überlegungen ganz der Mensch im Mittelpunkt steht, seine Menschenwürde im Mittelpunkt steht, und man den Eindruck hat, das geht völlig verloren im Umgang mit den Missbrauchsskandalen. Im Jahr 2002 begann ja die Enthüllung der großen Missbrauchsskandale - davor war auch schon genug bekannt, aber da wurde es dann wirklich weltweit klar. Da hat sich Papst Johannes Paul II., man muss es so sagen, dumm, fahrlässig, verbrecherisch im Grunde angestellt, weil er die Missbrauchsopfer nicht ernst genommen hat, sondern sich immer auf die Seite seiner Institution und seiner Kirche gestellt hat. Wie ist das zu erklären?
Drobinski: Ich glaube, es gibt verschiedene Phasen. In den 80er Jahren gab es auch durchaus einen Optimismus in der Gesamtgesellschaft, sexuelle Gewalt durch Therapie beenden zu können, dadurch, dass man den Leuten ins Gewissen redet und sie mal irgendwo hinversetzt. Das heißt, da war die Kirche auch nicht anders als der Rest der Gesellschaft, der zum Teil auch über die Legalisierung von Pädophilie diskutierte.
Es gab aber dann eine Phase, wo das auch sehr eindeutig war, dass das nicht stimmt, dass diese Gewalt Kinder dramatisch schädigt. Und da war, muss man schon sagen, für diesen Papst die Unversehrtheit der Kirche das Wichtigste. Was er auch erlebt hatte im Widerstand gegen den Kommunismus, im Widerstand gegen Nationalsozialisten: Wir müssen zusammenstehen, wir dürfen keine Lücke lassen. Das führte schon dazu, dass es da ganz furchtbare, dramatische Fehlentscheidungen gab.
Die Schlimmste ist, glaube ich schon, die mit dem Gründer der Legionäre Christi, Maciel, wo ziemlich schnell klar war, dass dieser Mann einfach ein Gewalttäter und ein Krimineller ist. Da gab es auch sehr früh glaubwürdige Zeugenaussagen, das alles interessierte den Papst nicht, weil der Mann aus seiner Sicht im Grunde auf der richtigen Seite stand. Das war derjenige, der ihm eine superreligöse Kampftruppe zur Verfügung stellte, die ganz klar das verkündete, das propagierte, was er auch wollte …
Weber: Und die Jugend begeisterte …
Drobinski: Und die Jugend, einen Teil der Jugend begeisterte. Es ist ja oft so, dass diese Täter oft charismatische wie gewalttätige Persönlichkeiten sind, also beides in einem. Dafür fehlte ihm völlig das Instrumentarium, muss man leider sagen.
Urban: Es gibt aber auch noch einen pragmatischen Aspekt. Die Frage, die auch heute diskutiert wird: Was ist an Information zu ihm gekommen? Der Papst ist ja mit fortschreitendem Lebensalter krank geworden, er litt an Parkinson, und wir wissen, dass in seinen letzten Lebensjahren nur ein kleiner Teil der Information zu ihm gelangte, er auch an vielen Dingen gar nicht mehr interessiert war, weil er wahrscheinlich in Gedanken schon im Jenseits war.
Er hatte natürlich als Leiter der Kirche und als Staatschef die Verantwortung, aber es spricht vieles dafür, dass viele Informationen gar nicht bis zu ihm, bis zu seinem Schreibtisch gekommen sind. Und er hat in der Tat diese Dinge unterschätzt, andererseits aber auch zum Teil als Teil einer Kampagne gegen die Kirche gesehen.

Vom Alter gezeichnet im Licht der Fernsehkameras

Weber: Er hat es geschafft, Schuld der Kirche einzugestehen, für die Geschichte, für die Shoa, aber auch für andere Vorgänge, aber im Hinblick auf die Missbrauchsskandale hat er das eigentlich nie so pauschal sagen können für seine Kirche, oder?
Drobinski: Ja, er war natürlich mitten in der Auseinandersetzung. Es gibt schon auch immer wieder Zitate, wo er sagt, dass er entsetzt ist und erschüttert. Da sieht man diese Mischung aus auf der einen Seite Entsetzen, Hilflosigkeit, Verteidigung und das Thema Unterschätzen.
Weber: Wenn wir jetzt auf sein Lebensende schauen, das war ja ein Papst, der wirklich vor den Fernsehkameras gelitten hat, gealtert ist und praktisch vor den Kameras gestorben ist. Warum dieses öffentliche Leiden, war das theologisch begründet im Sinne von: das ist ein mir auferlegtes Amt, das kann ich nicht abgeben? War es das Bild von der leidenden Kirche, das Papst Johannes Paul II. da mitgetragen hat? War das einfach sture Pflichterfüllung, kann man das sagen?
Urban: Es war wahrscheinlich von allem etwas. Es gibt ja ein Zitat von ihm, er sagte: Christus ist auch nicht vom Kreuz herabgestiegen, ich muss meinen Weg bis zum Ende gehen.
Weber: Das klingt ziemlich theologisch begründet.
Drobinski: Ja. Ich glaube auch, er hat das wirklich als Teil seiner Mission gesehen. Als er das Attentat 1981 überlebte, da hat er schon gesagt: Das ist Gottes Wille. Das, was ich hier mache, ist eben nicht nur, sagen wir mal, im weltlichen Sinne, weil ich eine Karriere vor mir habe oder weil ich die Welt verändern will, sondern tatsächlich hat hier Gott einen Plan mit mir – und aus dem Plan kann ich nicht einfach aussteigen. Und das war, glaube ich, wirklich zutiefst in ihm drin: Ich mache hier nicht einfach irgendeinen Job, ich mache hier nicht irgendwas, sondern ich bin das Werkzeug Gottes im Grunde. Da kann man nicht einfach aussteigen.
Von daher hat er schon dieses sich Quälen - man hat das ja gesehen, wie dieser starke, virile, sportliche Mann verfiel, ja, mich hat das schon auch sehr beeindruckt. Es gab Leute, die fühlten sich davon abgestoßen, aber da ist jemand, der in einer Weise mit Schwäche und Grenzen des Lebens umgeht, dass das gerade in dieser Gesellschaft, die das ja alles verdrängt und wegschiebt, auch eine ganz wichtige Funktion hat.
Weber: Zum Schluss ganz kurz: Sie beide haben Papst Johannes Paul oder auch Wojtyła über seine Karriere hinweg begleitet, jetzt haben Sie ein Buch geschrieben und sich noch mal ganz besonders auf diese Person gestürzt. Was hat sich verschoben bei Ihnen, was ist ein Aspekt, den Sie vorher so nicht gesehen haben?
Urban: Bei mir hat sich im Grunde der allererste Eindruck bestätigt. Ich habe ihn gesehen im Kölner Dom 1978. Das war reiner Zufall, ich war dort Fremdenführer, habe eine Domführung gemacht. Es war der Besuch einer polnischen Bischofsdelegation zwei Wochen, bevor er Papst wurde. Im Kölner Dom liegt eine deutsche Prinzessin begraben, die polnische Königin war, Richeza. Ich habe meiner Besuchergruppe davon erzählt, es stellte sich ein Kardinal dazu und lobte mich danach dafür. Ich wusste nicht, wer das ist, ich habe dann gesehen, es ist Wojtyła.
Er hat eine sehr starke Ausstrahlung, eine ganz starke Aura, gleichzeitig wirkt er sehr warmherzig. Das habe ich bei den Reisen nach Polen, nach Litauen und in die Ukraine, wo man ihm als Berichterstatter etwas näher kommen konnte, bestätigt gesehen.

Eine faszinierende Persönlichkeit

Weber: Herr Drobinski, wie ist das bei Ihnen?
Drobinski: Ja, ich habe mich ja lange in der katholischen Jugendarbeit engagiert - als Jugendlicher, da war er natürlich fast schon das Feindbild. Derjenige, der uns alles da verbieten wollte, was Spaß macht, der die Theologen maßregelt, die wir toll fanden, der gegen die Befreiungstheologie vorging. Also, alles dies, was als Konflikt ja auch in dem Buch steht, das war das, was uns auch beschäftigte.
Das fing schon als Journalist an, als man sich näher dann mit ihm beschäftigte und auch merkte, was für eine faszinierende Persönlichkeit das ist – da hat sich das Bild schon auch differenziert. Da ist schon auch was gekommen, wo ich sage: Der Mann hat auch heute noch was zu sagen.
Das ist mir auch noch mal beim Schreiben dieses Buches klargeworden: Er ist eben nicht nur einfach der autoritäre, reaktionäre Papst, der den Aufbruch der Kirche verhindert hat. Ja, darunter leidet die katholische Kirche bis heute, unter diesen 26 Jahren auch zum Teil Diskursverbot, das es da gab. Aber die Frage: Was macht Menschenwürde aus und gibt es nicht tatsächlich etwas, das über das, was wir so als Materialismus, als das Nächstliegende sehen, hinausgeht, wonach wir uns doch sehnen und wonach wir streben? Das fand ich schon faszinierend und toll – und ich glaube, das bleibt auch tatsächlich.
Man kann ja immer fragen, die katholische Kirche hat ihn heilig gesprochen, was ist ein Heiliger? Dann kann man sagen, viele Dinge, die er tat, warten auch noch auf eine kritische Aufarbeitung, da hat unser Buch bei Weitem noch nicht alles geleistet. Aber heilig, sagt sein Nach-Nachfolger Papst Franziskus, ist ja jemand, der sozusagen sich volle Kanne seiner Aufgabe stellt, der sich hineinbegibt. Und das hat dieser Papst tatsächlich gemacht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Matthias Drobinski und Thomas Urban: Johannes Paul II. Der Papst, der aus dem Osten kam
C.H.Beck, München 2020
336 Seiten, 24,95 Euro

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