Neue Bahnen

In vier Konzerten gibt das Leipziger Streichquartett seinem Publikum im Mendelssohn-Saal des Neuen Gewandhauses zu Leipzig die Möglichkeit, "hörend und empfindend der jeweiligen Modernität von oft Gehörtem und Unbekanntem auf die Spur zu kommen". Neue Bahnen gibt es auch heute für diejenigen, die wachen Geistes neugierig sind. Vielleicht hilft das Verständnis der Musikgeschichte auch bei der Rezeption der gegenwärtigen Musik? Gedanken des Cellisten des Leipziger Quartetts, Matthias Moosdorf, zu dieser Konzertserie:
Über Jahrhunderte war das Musikleben Europas geprägt von lebenden Komponisten und ihren Werken, manche hatten ihre Inspiration, das Sujet, die aktuelle Eingabe aus den unmittelbaren Ereignissen der Politik oder Gesellschaft oder ganz einfach des Zeitgeistes schöpfen können. Eine Sonate, welche schon 20 Jahre alt war, aufzuführen, kam niemand in den Sinn, es sei denn, sie hatte einen aktuellen Bezug zum Rest des jeweiligen Programms. Manche Säulen der abendländischen Musikkultur, die heute aus dem globalisierten Betrieb nicht wegzudenken wären, wie zum Beispiel Bachs Matthäus-Passion, existierten als große Ikone des Lernens über Jahrzehnte nur für die schmale Zunft der Tonkünstler, bevor sie – hier von Mendelssohn Bartholdy - für die Allgemeinheit wieder entdeckt wurden. Dieser Prozess wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erweitert und beschleunigt: das Idol der Romantisierung war ohnehin eine Sicht auf das Vergangene, was lag darum näher, als sich an Mozart und Beethoven zu ergötzen?

Im 20. Jahrhundert geriet der Geschmack der Musik liebenden Teile der Gesellschaft dann vollends in Konflikt mit den Bestrebungen der Moderne. Inzwischen hatte sich auch noch eine unterhaltende, quasi light-Variante, heute als U-Musik bezeichnet, von der sogenannten ernsten Musik abgespalten. Ebenfalls eine Tendenz, die bis heute andauert und durch den Religions- und damit Werte- und Kulturverlust großer Teile der Bevölkerung noch verstärkt wird. Man hört nur, was man weiß, und am liebsten hört man, was man eigentlich schon kennt. Damit steht die Tradition der Rezeption auf dem Kopf! Schuld ist jedoch nicht nur die nachlassende musikalische Bildung der Hörerschaft und damit ihrer Möglichkeit zur Differenzierung, Schuld sind auch die Interpreten, die einen schmalen Kanon von Meisterwerken – oft ohne wirkliche Berechtigung – wieder und wieder aufführen und auf Tonträger aufnehmen und damit aus dem Auge verlieren, dass es eine Spitze nur geben kann, wenn dahinter auch die Breite existiert.

In diesem Prozess der Verarmung sind nun nicht nur jene Werke unter das Rad der Vergessenheit gekommen, die eine qualitative Auslese ohnehin dorthin gebracht hätte. Nein, auch wirkliche Meisterwerke fallen ihr zum Opfer! Es sei noch darauf verwiesen, dass es oft überhaupt einer Einspielung oder eines Konzertes bedarf, um das jeweilige Werk beurteilen zu können, denn wer nähme sich noch die Zeit und Mühe, die Partitur am Klavier durch zu spielen. Es ist Aufgabe von uns Interpreten, wachen Sinnes nach solchen Werken zu suchen und diesen zu einer hörbaren und damit bewertbaren Renaissance zu verhelfen.
Neue Bahnen erkannte der auch publizistisch tätige Robert Schumann in der Musik von Johannes Brahms, und wer kann sagen, was ohne diese einflussreiche Fürsprache in der Musikgeschichte anders verlaufen wäre. Seit jeher gebar die Zeit in ihren gesellschaftlichen Wechselwirkungen Neues in der Kunst, in der Rezeption zuerst bekämpft oder zumindest abgelehnt, später angenommen, bejubelt, um - zur Routine werdend - dann wieder vergessen oder als Kulturgut stilisiert zu werden. Ohne Förderung von Adelshäusern, aufgeklärtem Bürgertum, machtvollen Einzelpersonen sind diese Abschnitte nicht denkbar. Ohne Nachschub an Gleich- oder höherwertigen Werken auch nicht. Doch was ist so neu an Manchem, dass der Schreck der Zeitgenossen überliefert ist: als Herumtrampeln auf den Noten von Beethovens erstem der mittleren Quartette, dem Aufschrei der Kritiker und Musikliebhaber bei Franz Schubert, dem Kopfschütteln über Anton Weberns zarten Versuche, der Tonalität den Rücken zu kehren? (Matthias Moosdorf)



Mendelssohn-Saal des Gewandhauses zu Leipzig
Aufzeichnung vom 25.10.2009


Wolfgang Amadeus Mozart
Streichquartett D-Dur KV 499 ("Hoffmeister-Quartett")

Anton Webern
Streichquartett (1905)

August Klughardt
Quintett für Klavier, zwei Violinen, Viola und Violoncello g-Moll op. 43



Olga Gollej, Klavier
Leipziger Streichquartett:
Stefan Arzberger, Violine
Tilman Büning, Violine
Ivo Bauer, Viola
Matthias Moosdorf, Violoncello


nach Konzertende ca. 21:27 Nachrichten