Neue Ansichten und Sehweisen

Von Wolfgang Martin Hamdorf |
Das Filmfest München ist ein Publikumsfest – es gibt keinen Wettbewerb und auch keine finale Preisverleihung, dafür werden 10 Preise unterschiedlicher Organisationen vergeben. Der Reiz des Filmfestes auch in diesem Jahr: Die Entdeckung neuer persönlicher Erfahrungen und Erinnerungen in einem inhaltlich und gestalterisch äußerst vielfältigen Gesamtprogramm.
Ein Selbstmordanschlag in Tel Aviv. Eine junge Frau nimmt danach eine neue Identität an. Der junge Regisseur Danny Lerner hat für seinen in dunklen Schwarz-Weiß-Bildern gedrehten Film "Frozen Days" auf eigene Erfahrungen zurückgegriffen:

"Ich habe ein solches Bombenattentat erlebt, ich stand direkt daneben. Du musst nicht körperlich verletzt sein, um tiefe Verletzungen zu empfinden. Das ist eine israelische Geschichte, aber sie könnte in anderen Teilen der Welt spielen. Ich wollte keinen politischen Film machen, sondern meine ehrliche und subjektive Sicht zeigen."

Viele der Filme aus 40 Ländern reflektieren auf sehr persönliche und eigenwillige Weise soziale und politische Verhältnisse. Das gilt auch für den lateinamerikanischen Film. Der 35-jährige Regisseur Santiago Loza beleuchtet in seinem ebenso klaustrophobische, wie unterhaltsam hoffnungsvollen Kammerspiel "4 Mujeres Descalzas" (Vier Frauen barfuss) die tiefe Krise der argentinischen Gesellschaft:

"In dieser ganzen niedergeschlagenen Stimmung habe ich mich gefragt: Was sind die Werte, die uns noch bleiben? Also mit Werte meine ich jetzt nicht diesen billigen Patriotismus, wie Gott und das Vaterland; sondern diese Überlebenfähigkeit, diese Fähigkeit sich gegenseitig zu helfen, diese neue Form von Solidarität untereinander."

Themen, wie menschliche Solidarität oder der Schutz menschlicher Würde fanden sich dieses Jahr in den unterschiedlichen Programmbereichen. Seit fünf Jahren wird der "Bernard Wicki-Filmpreis Die Brücke – Der Friedenspreis des Deutschen Films” verliehen. Dieses Jahr ging er an "Das Leben der Anderen" von Florian Henckel von Donnersmarck. In seiner Laudatio stellte der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher den Film in einen allgemeinen Bezug zum Kampf für die Menschenrechte:

"Der Zuschauer ergreift Partei, er kann gar nicht anders, so sollte es immer sein, wenn es um die Würde des Menschen geht. Dieser Film kommt zur richtigen Zeit, er gibt den Opfern ein Gesicht, in einer Zeit, in der DDR-Nostalgie wie eine Art geschichtlicher Weichspüler zu wirken beginnt."

Laudator war auch Constantin Costa Cavras, der mit großen Publikumserfolgen wie "Z", "Missing" oder "The Musicbox" den politischen Film wie kaum ein anderer geprägt hat:

"Ich glaube jede Gesellschaft braucht diese anderen Filme. Aber seit 35 Jahren, also seitdem ich Filme mache, höre ich immer wieder: Das politische Kino ist tot. Selbstverständlich ist es heute schwerer, politische Filme zu machen. Unser aggressives neoliberales Gesellschaftssystem hat zu einer Vereinzelung geführt. Man kann sich nicht mehr vorstellen, dass man etwas gemeinsam mit anderen ändern kann. Durch Filme können wir aber etwas über das Leben und die Zusammenhänge anderer Menschen lernen und uns auch unterhalten lassen."

Im internationalen Programm setzten sich junge Filmemacher auch mit der deutschen Geschichte auseinander; über den dokumentarischen Blick, der ganz stark von der Präsenz der Zeitzeugen lebt.
So schildert der amerikanische Independentfilm "Journey to Justice" die Reise von Hans Triest in seine Heimatstadt München. Er konnte als Jugendlicher in die USA emigrieren, verlor seine Eltern in Auschwitz und kehrte als junger Soldat und Übersetzer für die Nürnberger Prozesse nach Deutschland zurück.

Der 46-jährige holländische Filmemacher Alexander Oey zeigt in seinem Porträt "Mein Leben als Terrorist: Die Geschichte von Hans-Joachim Klein" die Entwicklung des Linksterrorismus in der BRD der 70er Jahre. Der Protagonist Hans-Joachim Klein erlangte durch die spektakuläre Geiselnahme auf dem OPEC-Gipfel in Wien 1975 zu trauriger Berühmtheit. Für den ehemaligen Terroristen war der Film auch eine Gelegenheit mit der eigenen Vergangenheit abzurechnen:

"Ich wollte mal Stellung nehmen zu meiner Vergangenheit: aufzeigen, wie man da rein kommt, und vor allem, warum man wieder rausgeht. Das Schwierige war rauszugehen, das Schwierige war nicht das Reingehen, das Reingehen ging von selbst. Über meine Militanz über sieben Jahre hinweg in Frankfurt, da wars einfach in die Gruppe reinzukommen. Das Problem war es, wieder rauszukommen – ich wollte mal aufzeigen, das man trotz … ich mein, ich bin für drei Tote verantwortlich …"

Um die Verarbeitung persönlicher Schuld nach einem Gewaltverbrechen geht es auch dem 69-jährigen deutschen Regisseur Peter Fleischmann, dem in München mit seinem neusten Film "Mein Freund der Mörder" ein beeindruckendes filmisches Comeback gelang. Der Film erzählt auf vier zeitlichen Ebenen das Leben von Bernhard Kimmel, der in den 50er Jahren als "Al Capone von der Pfalz” zum Mythos auch über die Region hinaus wurde:
Kinder: "Al Capone dieser Lümmel, kommt auch Lamprecht und heißt Kimmel”"

Fleischmann: ""Bernhard Kimmel hat sein halbes Leben im Gefängnis verbracht. Ich habe Ihn über 35 Jahre hinweg immer wieder mit der Kamera begleitet. Im Laufe der Zeit sind die Barrieren zwischen dem Beobachter und seiner Zielperson verschwunden. Wir sind uns näher gekommen, so dass dieser Film auch zur Geschichte einer Freundschaft geworden ist."

Der Film spiegelt über das Porträt des berühmt-berüchtigten Bandenführers hinaus fast beiläufig Wirtschaftswunder und Nachkriegsgesellschaft wider. In Müchen hat Bernard Kimmel zum ersten Mal den fertigen Film gesehen:

"Man darf halt nicht vergessen, verdammt noch mal, es ist Blut geflossen in der ganzen Sache. Wenn das nicht passiert wäre, das andere, ja da kann man sagen: Ja, das habe ich getan, das war schlimm, das waren auch Verbrechen, aber wegen einem Panzerschrank brauche ich nicht zu weinen, also das war eine Sache, die mache ich heute nicht mehr. Aber wenn dabei ein Mensch dabei sein Leben verloren hat, das kann man nicht mehr gutmachen."

Filme wie "Mein Freund der Mörder" vermittelten neue Ansichten und Sehweisen gesellschaftlicher Zusammenhänge. Das machte auch dieses Jahr wieder den Reiz des Filmfest München aus: Die Entdeckung neuer persönlicher Erfahrungen und Erinnerungen in einem inhaltlich und gestalterisch äußerst vielfältigen Gesamtprogramm.