Neuausgabe

Kästners freches und zärtliches Meisterwerk

Rezensiert von Wolfgang Schneider · 30.12.2013
Das Werk ist auch nach 80 Jahren immer noch erstaunlich cool und kess: Erich Kästners Roman "Fabian" von 1931 ist jetzt erstmals in seiner ursprünglichen Form und unter dem Originaltitel "Der Gang vor die Hunde" erschienen. Etliche damals gestrichene derb formulierte Textpassagen und Sexualdarstellungen spiegeln die damalige Zeit ungeschönt.
"Er betrieb die gemischten Gefühle seit langem aus Liebhaberei", heißt es über Jakob Fabian. Der zweiunddreißigjährige Reklametexter wird als "Moralist" bezeichnet. Auch wenn er es mit der bürgerlichen Moral nicht genau nimmt. Eine Liebschaft jagt die nächste, er lässt sich treiben durch das Berliner Nachtleben um 1930, wo die Lasterhaftigkeit geradezu folkloristisch geworden ist.
Vor allem ist Fabian ein scharfer Beobachter, der sich in einer Zeit der radikalen Ideologien bewusst zwischen die Stühle setzt. Und es mit Vernunft, Anstand und Mitleid hält. Er wird Zeuge einer nächtlichen Schießerei zwischen einem Nationalsozialisten und einem Kommunisten; eine komische Szene, auch wenn die Republik darüber vor die Hunde geht.
Nachdem er alles verloren hat – die ungeliebte Arbeit, die geliebte Cornelia, den besten Freund Labude, der nach einer akademischen Intrige Selbstmord begeht – ertrinkt Fabian beim Versuch, einen ins Wasser gefallenen Jungen zu retten. Nicht der Junge, sondern Fabian ist Nichtschwimmer. Will sagen: unfähig im Strom von Zeitgeist, Amoral und Unmenschlichkeit weiter mitzuschwimmen.
Kästners freches und zärtliches Meisterwerk ist jetzt noch einmal erschienen, in der ursprünglichen Form des Manuskripts. "Der Gang vor die Hunde", der von Kästner favorisierte Titel, ist besser als "Fabian", weil er die Wut, Verzweiflung und Untergangsstimmung schlagkräftig zum Ausdruck bringt. Der Herausgeber verspricht darüber hinaus ein ganz neues Leseerlebnis. Das ist etwas übertrieben, die meisten Abweichungen gegenüber der Erstausgabe sind geringfügig.
Der beleibte Direktor Breitkopf entkleidet sich im Büro
Allerdings gibt es auch einige längere Streichungen, die nun zusätzliche Anreize zur Wieder-Lektüre bieten, etwa ein Kapitel, das auf burleske Weise eine Autorität demontiert: Der beleibte Direktor Breitkopf entkleidet sich im Büro vor Fabian und dem Kollegen Fischer, um ihnen seine vereiterte Blinddarmnarbe vorzuführen. Gestrichen wurde auch eine Passage, in der Fabian und Labude Bus fahren und zur Empörung der Fahrgäste über honorige Baudenkmäler Berlins blödeln – vergleichsweise harmlose, aber das Nationalgefühl treffende Späße.
Die sexuelle Direktheit des Buches übertrifft das meiste, was damals auch von modernen Autoren publiziert wurde. Interessant sind diese Szenen heute aber weniger, weil sie 1931 so kühn waren, dass der Verlag sich zu einigen Entschärfungen veranlasst sah und die rechte Publizistik vor Empörung schäumte ("gedruckter Dreck", "Schilderungen untermenschlicher Orgien"), sondern weil sie einem bestimmten Muster folgen.
Ein Untertitel lautet: "Es gibt sehr aufdringliche Damen." Das ist der Tenor der meisten Sexualdarstellungen: Die Frauen, wie Kästner sie sieht, sind im Zuge von Emanzipation, städtischer Moderne, sozialökonomischer Dauerkrise und der Entwertung der bürgerlichen Moral außer Rand und Band geraten. Wohl nie zuvor ist aggressive, zupackende weibliche Sexualität in der deutschen Literatur so direkt – und wiederum mit sehr "gemischten Gefühlen" – beschrieben worden.
Die Neuausgabe bietet die Gelegenheit, einen Roman wiederzuentdecken, der sich nach achtzig Jahren immer noch erstaunlich cool und kess liest, mit einer zündenden Mischung aus Räsonnement, Großstadtfiktion, Reportage-Momenten und autobiographischen Syndromen. "Der Gang vor die Hunde" steht nicht nur objektiv an einer Zeitenwende, er bringt den historischen Kippmoment auch mit faszinierender Hellsicht zum Ausdruck.

Erich Kästner: Der Gang vor die Hunde
Roman, herausgegeben von Sven Hanuschek
Atrium Verlag, Zürich 2013
320 Seiten, 22,95 Euro