Neu im Kino

Mitten ins Herz

Die Darstellerinnen Adèle Exarchopoulos (l) und Léa Seydoux in einer Szene des Kinofilms "Blau ist eine warme Farbe" von Abdellatif Kechiche
Adèle Exarchopoulos (l) und Léa Seydoux in einer Szene von "Blau ist eine warme Farbe" © picture alliance / dpa / Alamode Film
Von Jörg Taszman · 18.12.2013
Adèle und Emma leben in "Blau ist eine warme Farbe" ihre Liebe ohne Regeln lautstark aus. Regisseur Abdellatif Kechiche bricht mit seinem Film die Sehgewohnheiten - und liefert einen Meilenstein des Kinojahres.
Dieser Film zielt mitten ins Herz. Es ist eine der leidenschaftlichsten Liebesgeschichten, die das Kino je erzählt hat. Vor der Wucht dieses emotionalen Filmes musste auch Steven Spielberg als Jurypräsident in Cannes kapitulieren. Er gab dem Regisseur Abdellatif Kechiche und den beiden Darstellerinnen Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux gemeinsam die Goldene Palme. Eigentlich war das ein Regelverstoß, weil mit dem besten Film nur der Filmemacher ausgezeichnet wird, aber Steven Spielberg hatte Recht. Es sind die großartigen Hauptdarstellerinnen, die "Blau ist eine warme Farbe" zu einem Meilenstein des Kinojahres erheben.
Erzählt wird eine etwas andere "Coming of Age" Geschichte. Die 15-jährige Adèle ist wie viele Mädchen auf der Suche nach dem ersten Freund, dem ersten Sex. Und kurz nach ihrem "ersten Mal" begegnet sie auf der Straße einer Studentin mit blau gefärbtem Haar, Arm in Arm mit ihrer Freundin. Schon wie Kechiche die erste Begegnung inszeniert, fast zelebriert, ist magnetisierend. Der berühmte Zufall, der keiner ist, hat Folgen.
Adèle lernt Emma kennen und beide verbindet eine Leidenschaft, die Kechiche in den langen Liebes- und Sexszenen mit einer Sinnlichkeit darstellt, wie sie im Kino fast nie zu sehen ist. Diese Nähe, soviel nackte Haut und schwitzende Körper, das lautstarke Ausleben dieser "amour fou" überschreitet normale Sehgewohnheiten. Je nach der Sensibilität und dem individuellen Schamgefühl des Betrachters mag man auch unterschiedlich auf diese fast rohen Lustausbrüche reagieren.
Sinnlichkeit statt Voyeurismus
Und doch sind die Bilder von Kechiche nicht voyeuristisch sondern sinnlich. Und wenn ganz besonders politisch korrekte Zeitgeister, dem Regisseur vorwerfen, er habe eine "lesbische" Liebe als heterosexueller Filmemacher den Konventionen des Mainstreampublikums angepasst, so greift das zu kurz. Es gibt keine Regeln in der Liebe und in der Leidenschaft. Weder beim Erleben, noch beim Beschreiben oder Zeigen.
"La vie d'Adèle - Chapitres 1 & 2" wie der Film im Original heißt, ist aber viel mehr als nur ein Film mit expliziten Sexszenen. Er zeigt auch, wie sehr soziale Unterschiede und Wurzeln auch die größte Liebe beschweren und wie sehr Eifersucht und Stolz auch unkonventionell Liebende beeinflussen. Es ist die Nähe und die Liebe der Kamera zu den Hauptfiguren, die so betört, verzaubert, den Betrachter in den Bann zieht. Und es ist die Entdeckung der so natürlich aufspielenden Schauspielerin Adèle Exarchopoulos, die mit nur 20 Jahren eine Sensation ist.

Frankreich 2013 - Regie: Abdellatif Kechiche, Darsteller: Adèle Exarchopoulos, Léa Seydoux, Salim Kechiouche, Aurélien Recoing, 177 Minuten, ab 16 Jahren