Netzpolitik

Kluft zwischen Amtsanspruch und Ahnungslosigkeit

Einzelne Glasfaserkabel der Deutschen Telekom
Die FAZ interpretiert die Entscheidung für Alexander Dobrindt als „Gründung eines Glasfaserkabelverlegungsministeriums“. © picture alliance / dpa – Julian Stratenschulte
Von Arno Orzessek |
Die Feuilletonisten spotten heute über die unübersichtliche Aufgabenteilung der Bundesminister in punkto Netzpolitik. Außerdem erinnern sie an den 100. Geburtstag von Willy Brandt und beschäftigen sich mit dem Film „Blau ist eine warme Farbe“ und den Wirbel, den seine lesbischen Liebesszenen ausgelöst haben.
„Fünfzehn Lufthoheiten“,
zählt die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG im Kabinett der neuen Regierung.
Und tatsächlich sind die Zuständigkeiten der Ministerien so krumm zugeschnitten, dass man ahnt: Die Kluft zwischen Amtsanspruch und Ahnungslosigkeit wird oft im Lufthoheitston überbrückt werden müssen.
Viel Spott hat FAZ-Autor Jürgen Kaube für den CSU-Politiker Alexander Dobrindt übrig, der sich als Verkehrsminister auch ums Digitale kümmern soll:
„Man kann [die Entscheidung für Dobrindt] [ ... ] als denkbar deutlichste Absage an ein Internetministerium und als Gründung eines Glasfaserkabelverlegungsministeriums interpretieren.“
Das heißt aber nicht, dass andere digitale Themen unter den Tisch fallen. Im Gegenteil: Sie landen, wie Paul Wrusch in der TAGESZEITUNG erläutert, auf ganz vielen Tischen.
„Um Datenschutz, IT-Sicherheit, Vorratsdatenspeicherung, Startup-Förderung, E-Government, Netzneutralität, Urheberrecht und Jugendschutz werden sich etwa Innen-, Justiz-, Wirtschafts- und Familienministerium kümmern. Ob jemand all diese Themen zwischen den unterschiedlichen Häusern koordiniert, steht noch nicht fest.“
Wenn man das liest, denkt man, dass in Deutschland doch noch Platz für eine Internet-Spezial-Partei wäre. Aber ach, die Piraten! Gluck, gluck, weg war'n se.
Anders zu analoger Zeit Willy Brandt, der erste SPD-Bundeskanzler.
Anlässlich seines 100. Geburtstags bespricht Franziska Augstein in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG Albrecht Müllers Buch „Brandt aktuell. Treibjagd auf einen Hoffnungsträger“.
„Brandt ‚sei ein Träumer‘, fasst Müller die Urteile der Zeitgenossen zusammen, er sei ein Zauderer, Willy Wolke‘. Das alles hält Müller für ‚ausgemachten Quatsch, der sich nur in der Welt halten konnte und kann, weil alle das gleiche erzählen und nachplappern‘“,
zitiert die SZ aus Müllers „Brandt aktuell“.
Die Tageszeitung DIE WELT erinnert unter der Überschrift „Massenmörder aus der Mitte der Gesellschaft“ an den Frankfurter Auschwitz-Prozess, der am 20. Dezember 1963 begann.
WELT-Autor Peter Reichel blickt auch auf das Ende:
„In seinem Schlussplädoyer nennt Staatsanwalt Kügler Auschwitz ein ‚Mordzentrum von unvorstellbarer Entsetzlichkeit‘, das nur funktionieren konnte, weil Tausend gewollt zusammenwirkten. Ihre Untaten seien ‚von so ungezügelter und zugleich sachlich-bürokratisch organisierter Lieblosigkeit, Bosheit und Mordgier, dass niemand sie ohne tiefe Scham ... überdenken‘ könne. Sie hätten Deutschlands ‚Weg in eine freie und glücklichere Zukunft bis zur Unmöglichkeit erschwert‘“.
Von der Lieblosigkeit zur lesbischen Liebe. Um sie geht es in dem Film „Blau ist eine warme Farbe“ von Abdellatif Kechiche, der in Cannes die Goldene Palme gewonnen hat und nun in die hiesigen Kinos kommt.
Laut SZ-Autor Tobias Kniebe gefällt nicht allen, wie nahe sich die Schauspielerinnen Adéle Exarchopoulos und Léa Seydoux kommen – und wie sie sich nahe kommen.
„Im Fokus der Welt stehen die ziemlich langen, ziemlich expliziten lesbischen Bettszenen, die auch die amerikanische Filmkritik – Pornoverdacht! – umtreiben wie schon lange nichts mehr. Julie Maroh, die lesbische Autorin der Comicbuch-Vorlage, heizte die Debatte noch an, als sie berechtigte Repräsentationswünsche ihrer Minderheit ins Spiel brachte: ‚Was am Set offenbar fehlte, waren Lesben‘, schrieb sie in ihrem Blog.“
WELT-Autor Harald Jähner findet „Blau ist eine warme Farbe“ trotzdem „überragend“ und fasst die Botschaft des Films so zusammen: „Schämt euch nicht!“
Meistens war Keith Richards, der Kokser und begnadete Gitarrist der Rolling Stones, zu voll, um sich für irgendetwas zu schämen. Weshalb SZ-Autor Jens-Christian Rabe zu Richards 70. Geburtstag die Kardinalfrage stellt:
„Wie konnte es eigentlich so weit kommen, dass diese abgewohnte Vogelscheuche ihr eigenes Leben überstanden hat und [ ... ] noch so gut spielen kann?“
Rabes liebevolle Antwort überzeugt. Aber lesen Sie bitte selbst, liebe Hörer ...
Wir wünschen Ihnen, dass Sie auch ohne frische Line jenen Zustand erreichen, den die FAZ in einer Überschrift fixiert:
„Dem Glück so nah, dass es verschwimmt.“