Netflix-Serie "Wir sind die Welle"

Erfrischend politische Mainstream-Produktion

06:25 Minuten
Szene aus der Netflix-Serie "Wir sind die Welle": Fünf Jugendliche liegen auf einem Berg Altpapier.
Die Netflix-Serie "Wir sind die Welle" ist die bislang gelungenste deutsche Netflix-Produktion, meint Jörg Taszman. © netflix/ratPack Filmproduktion G
Von Jörg Taszman · 02.11.2019
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Mit "Wir sind die Welle" hat Netflix die vierte deutsche Serie herausgebracht. Sie fügt dem Kinofilm "Die Welle" um die politische Verführbarkeit von Jugendlichen eine aktuelle Variante hinzu. Themen wie Rassismus und Klimawandel werden hinterfragt.
Ausschnitt aus der Serie:
"Wie weit würdest Du gehen? Was würdest Du riskieren für deine Ideale, deine Freunde, für die Liebe, für unsere Zukunft?"
Sie sind jung und Schüler auf einem humanistischen Gymnasium in einer kleinen, deutschen Industriestadt. Das Stadtbild ist geprägt von Plakaten für die deutsch-nationale Partei NFD. Auch auf der Schule sind die rechten Parolen beliebt.
Außenseiter wie der auf einem Ökohof lebende Hagen oder die bei ihrem Opa lebende Zazie werden ebenso gemobbt wie der aus dem Libanon stammende Rahim. Nur die aus einem gut betuchten Elternhaus stammende Lea gehört nicht zu diesen Außenseitern.

Neuer Mitschüler formt neue Clique

Aber als plötzlich mit Tristan ein Neuer in die Klasse kommt, der ein Sankt-Pauli-T-Shirt trägt, politisch links steht und ebenso entspannt wie hartnäckig den politisch rechtsstehenden Jugendlichen Paroli bietet, formt er zusammen mit Hagen, Zazie, Rahim und Lea eine neue Clique, die sich euphorisch "Die Welle" nennt. Vor allem Lea bleibt zunächst skeptisch, ist aber ebenso von Tristan beeindruckt.
Ausschnitt aus der Serie:
"Was Du neulich in der Papierfabrik gesagt hast: 'Naivität ist das einzige, womit man die Arschlöcher schlagen kann.' Glaubst Du wirklich daran?"
"Sonst hätte ich es nicht gesagt, oder?"
"Aber eine Scheibe einzuwerfen ändert nichts."
"Kommt drauf an wessen Scheibe."

Welt der jungen Erwachsenen gut getroffen

Mit einem geschickten Gespür für den Zeitgeist und für die in der Luft liegenden Themen, mit denen sich junge Leute heute verstärkt auseinandersetzen, ist es den Serienschöpfern um Dennis Gansel gelungen, den Kinofilm "Die Welle" nicht einfach nur zu kopieren. Diesmal geht es nicht mehr um die Verführbarkeit durch eine faschistoide Gruppendynamik. Dafür wird in einem Nebenstrang vor der Gefahr durch eine der AFD ähnelnde extreme Partei gewarnt.
Gelungen ist dabei, wie diese NFD auf junge Männer setzt, bei denen die rassistischen und deutschtümlerischen Parolen verfangen. Der Parteiführer kippt dann schon eher in eine Karikatur, wobei der Plan der jungen Aktivisten, ihn satirisch zu entblößen, aufgeht und sehr unterhaltsam ist.
Gansel fungierte diesmal auch nicht mehr als Regisseur, sondern als Executive Producer. Er erläutert, warum er den Fokus der Serie im Vergleich zum Kinofilm verschob.
"Netflix rief mich an und fragte, was ich gerne für eine Serie machen würde", so Gansel. "Und ich habe gesagt, ich fände es spannend, wenn wir noch mal den Themenbereich der 'Welle' untersuchen würden." Er habe betont, er wolle nicht den Kinofilm noch mal machen, aber sich gerne damit auseinandersetzen, was die Jugendlichen heute beschäftigt, erinnert sich Gansel.

Politisierung nach Trump-Wahl

Dann seien Gansel und sein Team in Schulen gegangen - und merkten in der Unterhaltung mit vielen Schülern, dass sie politischer waren, als angenommen. "Die Wende kam mit der Wahl von Trump, als viele Jugendliche das Gefühl hatten: 'Wir haben es nicht mehr in der Hand', und dass sich unbedingt etwas ändern müsste."
Für eine deutsche Mainstreamproduktion - das ist jede von Netflix produzierte Serie auf Grund der enormen Reichweite – ist "Wir sind die Welle" erfrischend politisch. Hier werden die Probleme wie Fremdenhass, Profitgier und Klimawandel nicht nur brav abgehakt, sondern in den Aktionen der Welle-Mitglieder teilweise relativ komplex hinterfragt.
Wie weit darf Protest gehen? Ab wann sind Worte allein nicht mehr genug? Wo liegen die Grenzen zwischen einem Happening gegen eine Burgerkette und gegen einen SUV-Händler - und wann kippt Euphorie in Dogmatismus? Diese Welt der jungen Erwachsenen wird gut getroffen. Das beeindruckte auch Luise Befort, die Lea spielt.

Politische Entwicklungen anarchistischer darstellen

"Ich kann sagen, dass ich viele Werte, die die Figur hat, auch teile", sagt Befort. Wichtig und gut an der Serie finde sie, dass sie viele Themenbereiche abdecke: "von Rassismus bis Sexismus, bis Tierschutz, bis Klimaschutz, bis Waffenhandel". Solche Geschichten förderten den Austausch und die Sensibilisierung für diese Themen.
Neben Befort überzeugt vor allem der charismatische Ludwig Simon in der Hauptrolle des Tristan. Seine mitunter geheimnisvolle Figur ist die komplexeste der Serie. Nicht alle jugendlichen Charaktere sind aber gleich genau gezeichnet und getroffen. Bei der Elterngeneration hätte man sich ebenso mehr dramaturgische Sorgfalt gewünscht, wie bei den überzeichneten, skrupellosen Konzernchefs oder einem der NFD nahestehenden Polizisten.
Dennoch ist "Wir sind die Welle" wesentlich gelungener als andere deutsche Netflix-Produktionen. Für eine zweite Staffel gibt es gute Argumente, wenn man weiter so nah am Puls der Zeit bleibt. Dabei gibt es noch Luft nach oben, komplexe, politische und aktuelle Entwicklungen noch vielschichtiger und durchaus auch anarchistischer darzustellen.
(abr)
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