Netflix-Serie "When They See Us"

Dieses Rassismus-Drama macht wütend

11:23 Minuten
Eine schwarze Frau und ein schwarzer Mann gehen an einer Demo von Anti-Rassismus-Aktivisten vorbei.
Unschuldig verurteilt: Szene aus der Serie "When They See Us". © Atsushi Nishijima/Netflix
Alice Hasters im Gespräch mit Gesa Ufer · 18.06.2019
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Sie waren unschuldig, trotzdem mussten fünf Jugendliche für eine grausame Vergewaltigung ins Gefängnis. Erst Jahre später gestand der wahre Täter. Diese Serie erzählt eine wahre Geschichte und hat in den USA eine Rassismus-Debatte angestoßen.
Gesa Ufer: April 1989, New York City, Central Park. In dieser Nacht kommt es zu einem schrecklichen Verbrechen. Eine junge Joggerin wird aufgefunden: Blutüberströmt und halbtot. Sie wurde vergewaltigt und überlebt nur knapp. Die Täter scheinen schnell festzustehen: Vier jugendliche Afroamerikaner und ein junger Latino. Die Zeitungen nennen sie nur noch die "Central Park 5". Donald Trump schaltet Anzeigen, in der er die Todesstrafe für die Jungs fordert. Alle werden zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Doch 22 Jahre später stellt sich heraus: Sie waren unschuldig.

Rassismus im US-amerikanischen Justizsystem

Wie es zu dieser Ungerechtigkeit kam, erzählt die vierteilige Netflix-Serie "When They See Us". Doch sie erzählt noch viel mehr: Von Rassismus im US-amerikanischen Justizsystem. Die Journalistin Alice Hasters hat für uns gesehen. Lassen Sie uns zunächst über diese Anschuldigungen von damals sprechen. Warum wurden diese fünf Jungs damals überhaupt verdächtigt?
Alice Hasters: Das, was sie 'verbrochen' hatten, war, dass sie auch in dieser Nacht im Park waren. Zwar kilometerweit weg mit ganz vielen Jungs, ungefähr 30 an der Zahl. Aber die Polizei nimmt relativ willkürlich vier Jungs fest. Es sind Anton McCray, Yussef Salaam, Raymond Santana und Kevin Richardson. Und der fünfte, Korey Wise, der geht sogar freiwillig auf die Wache, weil er seinen Freund Yussef begleiten möchte.
Yusef Salaam weint. Im Hintergrund ist der Titel der Netflix-Serie "When they see us" auf eine Wand projeziert. Diese erzählt die Geschichte vom Yusef Saalm und vier anderer Jugendliche, die zu Unrecht im Gefängnis landeten. 
Tränen der Rührung: Yusef Salaam war einer der zu Unrecht verurteilten Jugendlichen.© dpa / picture alliance / Faye Sadou / MediaPunch
Aber das Ermittlerteam setzt sich schnell darauf fest, dass es nicht Augenzeugen sind, sondern Tatverdächtige. Dann werden sie auf der Wache festgehalten, getrennt voneinander, ohne Eltern, ohne Anwalt. Sie dürfen nichts essen, sie dürfen nicht auf die Toilette, und sie werden immer wieder nach dem Tathergang gefragt.
Ufer: Das ist in dieser Netflix-Serie sehr, sehr eindrücklich dargestellt.
Hasters: Diese Jungs wissen nichts über den Tathergang. Manche von ihnen wissen nicht einmal, was Vergewaltigung ist. Weil sie noch so jung sind. Aber nach 48 Stunden legen vier von ihnen ein erzwungenes Geständnis ab, weil sie denken, dass sie danach endlich nach Hause gehen können. Und geben vor laufender Kamera quasi zu, die Joggerin Trisha Milei vergewaltigt zu haben.
Ufer: Also man kann festhalten, diese Jungs hatten von Anfang an keine faire Chance?
Hasters: Ganz genau. Die Ermittler schneiden den Tathergang auf diese Jungs zu. Sie haben zum Beispiel keinerlei Blutspuren auf den Klamotten, obwohl das Opfer blutüberströmt aufgefunden worden ist. Keinerlei DNA-Spuren sind bei ihnen zu finden. Und am Tatort finden die Ermittler sogar eine Socke mit Samenspuren darauf, und die DNA auf der Socke passt zu keinem der fünf Jungs. Alle Beweise, die eigentlich dagegen sprechen, dass diese Jungs die Verdächtigen oder die Täter sind, werden ignoriert – besonders von Lindy Fairstein, das ist die damalige Hauptermittlerin. Und vor Gericht lässt sich die Jury davon überzeugen, dass sie ja gestanden haben. Und so werden sie verurteilt.

"Rassistisches Narrativ vom brutalen Schwarzen Mann"

Ufer: Aber warum? Wer hat ein Interesse daran? Hat diese Linda Fairstein ein Interesse daran, dass diese fünf Jungs auf Biegen und Brechen hinter Gitter kommen? Da besteht doch keine Notwendigkeit.
Hasters: Das Gute an dieser Serie ist, dass man das selber überhaupt nicht versteht. Die Filmemacherin Ava Duvernay ist von Anfang an ganz nah bei den Jungs . Wir als Zuschauer sind ganz nah bei den Jungs. Wir sehen viele Close-Ups auf ihre Gesichter, wunderschöne Aufnahmen von ihnen und ihrer Familie. Und uns wird beim Schauen klar: Das sind quasi noch Kinder, superjunge Teenager.
Aber diese Jungs wurden damals nicht so gesehen. Für die Öffentlichkeit waren es fünf Männer mit brauner Haut, die eine junge weiße Frau vergewaltigt haben und das passte in ein rassistisches Narrativ vom sexbesessenen, brutalen Schwarzen Mann. Das gab es damals, das gibt es heute - und ganz New York hat sich zu dem Zeitpunkt darauf gestürzt. Das ausschließlich weiße Ermittlerteam sieht diese Jungs eher wie Männer, wie Verbrecher, - und die Medien auch.

Donald Trump forderte die Todesstrafe

Ufer: Über diesen Fall wurde viel berichtet zu der Zeit oder?
Hasters: Man sagt, das ist einer der Fälle, über die in den 80er-Jahren in den USA am meisten berichtet wurde.
Die Berichterstattung war wirklich massiv. Selbst Donald Trump schaltet damals auf einmal Anzeigen für 85.000 Dollar, und fordert die Todesstrafe für die "Central Park 5". Und der hat zu dem Zeitpunkt noch nichts mit Politik zu tun.
Niemand scheint Zweifel daran zu haben, dass diese fünf Jungs es waren. Zwar gibt es auch Proteste, die man auch in der Serie sieht, gegen die Verurteilung, aber die bleiben klein und ungehört. Für uns als Zuschauer ist es aber ganz schwer auszuhalten. Wir sehen diese Menschen und denken, wie können die nicht sehen,, dass diese Jungs unschuldig sind? Deshalb ist es auch ein unglaublich emotionaler Moment in der Serie, wenn diese Jungs schuldig gesprochen werden. Obwohl man eigentlich schon weiß, dass das passieren wird, ist man irgendwie geschockt. Und das zeigt wie gut dieses Storytelling der Serie ist.

"In dieser Serie steckt eine Menge Recherche"

Ufer: Wie lange waren sie im Gefängnis?
Hasters: Sechs bis vierzehn Jahre waren diese Jungs im Gefängnis. Vier von ihnen kamen ins Jugendgefängnis. Und der Älteste, Corey Wise, war damals 16 und ins Erwachsenen-Gefängnis. Corey Wise wird auch eine ganze Folge gewidmet. Jharrel Jerome, der Darsteller, ist quasi der Star dieser Serie. Er spielt auch als Einziger den "jungen" und den "alten" Charakter - und das macht er wahnsinnig gut. Man merkt da auch noch einmal wie selten man Schwarze Schauspieler sieht, die Zeit und Platz haben, so eine Rolle richtig auszufüllen. Dass es immer noch wenige Rolle für Schwarze Darsteller gibt.
Fünf schwarze Jugendliche im Anzug vor Gericht.
Ungläubig vor Gericht: Szene aus "When They See Us"© Atsushi Nishijima/Netflix
Ufer: Die Serie beruht auf einem wahren Fall. Sie ist aber keine Dokumentation. Wie nah ist die Serie denn an der echten Geschichte der fünf Jungs?
Hasters: Es ist ein Spielfilm und genießt deshalb auch künstlerische Freiheit. Aber man merkt, dass in dieser Serie steckt eine Menge Recherche. Und man merkt auch, auf wessen Seite dieser Film steht. Das Ermittlerteam wird nicht so ausgiebig beleuchtet, aber man hat schon das Gefühl, dass Ava DuVernay alle Charaktere fair behandelt. Man versteht die Motivation aller Charaktere. Auch die Motivation der Hauptermittlerin Linda Fairstein. Keine Figur scheint überzeichnet. Man merkt, dass Duvernay selbst einen journalistischen Hintergrund hat. Sie weiß, wovon sie redet. Sie hat ja bereits einen Dokumentarfilm über Rassismus um Amerikanischen Justizsystem gemacht: "Der 13".
Und sie hat sehr eng mit den fünf Männern, die damals verurteilt wurden, zusammengearbeitet. Die sind jetzt auch sehr mit in die Vermarktung des Filmes eingebunden und haben ihre Begeisterung über diese Serie schon oft zum Ausdruck gebracht. Man hat schon das Gefühl, dass sorgfältig gearbeitet worden ist. Es ist aber auch sehr interessant wie hier Dokumentarisches und Fiktion zusammengeht. Es ist sehr ähnlich wie bei dieser Serie "The People vs. O.J.", die auch auf Netflix zu finden ist.

Anstoß für eine Debatte über Rassismus

Ufer: Es gab in den USA viel Aufmerksamkeit für diese Serie. Am Tag der Veröffentlichung war sie das Top Trending Topic auf Twitter. Was genau hat die Serie in den USA ausgelöst?
Hasters: Ich habe gestern noch gelesen, dass Netflix gesagt hat, dass es seit der Veröffentlichung die Serie ist, die in den USA am meisten auf Netflix geschaut wird. Diese Serie ist also immer noch Trending Topic. Der Fall ist zwar schon 30 Jahre her, aber er ist eben noch hochaktuell. Weil Schwarze und Latino-Personen werden immer noch proportional öfter und härter bestraft als Weiße Menschen. Immer noch berichten Medien oft über rassistische Polizeiübergriffe. Und diese ganze Ungerechtigkeit gegenüber Schwarzen und Latino-Personen in Amerika hat ja auch eine ganze Bewegung ins Leben gerufen: Black Lives Matter.
Ein schwarzer Jugendlicher in Anzug lehnt melancholisch an eine Gefängniswand.
Marquis Rodriguez in der Serie "When They See Us"© Atsushi Nishijima/Netflix
Und diese Serie macht wahnsinnig wütend. Weil diese Ungerechtigkeit so deutlich wird. Weil man auch gerade vermutet, dass heute immer noch zahlreiche Schwarze Menschen unschuldig in Gefängnissen sitzen. Ava Duvernay schafft es eben nicht nur die Geschichte dieser fünf Jungs als Einzelfall zu erzählen, sondern sie schafft es mit dieser Serie auch die scharfe Kritik an dem amerikanischen Justizsystem zu erzählen.

Spätes Geständnis des Täters

Ufer: Inzwischen steht fest, diese Jungs waren unschuldig. Wie ist das am Ende bewiesen worden?
Hasters: Das hat nichts mit irgendwelchen Ermittlungen zu tun gehabt. Das fing alles an mit einem Geständnis des eigentlichen Täters: Martias Reyes. Der war schon zu der Zeit, 2001, im Gefängnis für ein Verbrechen, das ähnlich schrecklich war. Und er gesteht. Die DNA an der Socke, die am Tatort gefunden worden ist, passte auch zu ihm. Und danach wurden die fünf Männer freigesprochen. Insgesamt bekamen sie eine Entschädigung in Höhe von 41 Million Dollar - die größte Entschädigung, die in New York City jemals ausgezahlt wurde.

Ermittlerin zeigt auch heute keine Reue

Ufer: Immerhin, möchte man sagen. Aber was für Konsequenzen hatte das für die Ermittler?
Hasters: Als damals die Unschuld bewiesen wurde, hatte das keinerlei Konsequenzen für diejenigen, die für die Verurteilung verantwortlich waren. Aber jetzt nach der Serie geht es der damaligen Hauptermittlerin Linda Fairstein an der Kragen. Sie war in diesen 30 Jahren Kriminalbuchatorin geworden. Aber kurz nach der Veröffentlichung der Serie wurde der Hashtag #CancelLindaFairstein auf Twitter groß. Es gab Petitionen, die zum Boykott ihrer Bücher aufriefen. Das hat dazu geführt, dass der Verlag ihr gekündigt hat und dass sie ein wichtiges Kuratorenamt niederlegen musste.
Ufer: Hat sich denn jemals jemand bei den fünf Männern entschuldigt?
Hasters: Nein, ganz im Gegenteil. Fairstein behauptet nach wie vor, dass die Männern wahrscheinlich etwas mit der Vergewaltigung von Trisha Meili, der Joggerin, zu tun hatten. Das hat sie vor kurzen in einem Artikel im Wall Street Journal noch einmal aufgeschrieben. Und sie sagt, statt der Central Park 5, hätten es eben die Central Park 6 sein müssen. Sie ist also immer noch von der Schuld dieser Männer überzeugt – ähnlich wie Donald Trump.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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