Nervenreparatur

Implantate aus Krabbenpanzer

Von Michael Engel · 16.11.2013
Kaputte Nerven brauchen Monate, bis sie wieder nachwachsen. Um diesen Prozess zu beschleunigen, wird der defekte Bereich mit Nervenfasern aus den Beinen überbrückt. Eine Alternative erproben Forscher an Mäusen: Röhrchen aus den Panzern von Krabben.
Als Matthias Brennig früh um sechs zur Arbeit fuhr, stieß der Auszubildende mit einem entgegen kommenden LKW frontal zusammen.
Matthias Brenning: “Also ich hab’ keine Erinnerungen an den Unfall, aber ich glaube, danach kam ich direkt zum Boden und bin dann erst mal liegen geblieben. Später wurde ich vom Ortskrankenhaus mit dem Helikopter weitertransportiert zu der Uniklinik.“
Unfälle, bei denen der sogenannte Plexus – das Nervengeflecht in der Schulter – abreißt, sind bei verunglückten Zweiradfahrern häufig, sagt Professorin Claudia Grothe von der Medizinischen Hochschule Hannover:
“Häufig machen dann die Neurochirurgen eine Operation, bei der meistens aus dem Bein ein sensibler Nerv explantiert wird und dem Patienten dieser eigene Nerv am Arm wieder eingesetzt wird, damit die wieder auswachsenden Axone eine Schiene haben, über die sie dann wachsen können."
Axone, das sind die eigentlichen Nervenfasern. Sie sind wie die Isolation beim Stromkabel von einer Hülle - der sogenannten Myelinscheide - umgeben. Bei Nerventransplantaten stirbt das innere Axon ab. Was bleibt, ist nur die Hülle, die aber dem neuen Nerv - wie ein Tunnel - den Weg zur Anschlussstelle zeigt. Nachteil: Durch die Entnahme von Nerven entstehen neue Verletzungen. Außerdem ist körpereigenes, autologes Material naturgemäß nur in Maßen verfügbar.
Ein Röhrchen, das die nachwachsenden Nerven leitet
Aus diesem Grund geht die Leiterin des Instituts für Neuroanatomie einen anderen Weg. Winzige Röhrchen, die aus dem Panzer von Meereskrabben gewonnen wurden, sollen die Nervenfasern leiten. Im Tierversuch – bei Ratten – funktioniert es schon, sagt die Kollegin, Professorin Kirsten Haastert-Talini:
“Bei den Ratten durchtrennen wir den Ischiasnerv immer an einer bestimmten, definierten Stelle, um das zwischen den Tieren vergleichbar zu halten. Und dann haben wir in diesen Nervus ischiadicus eben die Röhrchen eingesetzt und haben damit eine zehn Millimeter Lücke überbrückt. Das Ergebnis war, dass die Röhrchen genauso gut die funktionelle Regeneration gefördert haben wie das autologe Nerventransplantat, was wir als Kontrolle mitgeführt haben, so dass das ein sehr viel versprechendes Ergebnis ist.“
Die Röhrchen wurden im Bereich der Schnittstelle mit beiden Nervenenden verbunden. Klassisch mit Nadel und Faden. Zwölf Wochen später konnten die Versuchstiere schon wieder laufen: Die Röhrchen fungierten wie ein Tunnel für die neue Nervenfaser. In den nun folgenden Versuchen soll die zu überbrückende Distanz erhöht werden.
Claudia Grothe: “Die tierexperimentelle Phase ist noch nicht abgeschlossen. Da sind jetzt im Augenblick neue Experimente angesetzt, wo wir in den Ratten nochmal längere Distanzen überwinden wollen und zudem, um noch längere Distanzen untersuchen zu können, fangen jetzt Experimente mit Kaninchen an, bei denen 3,5 Zentimeter überwunden werden sollen.“
Für 2014 erste Versuche an Menschen geplant
Langfristig wollen die Forscherinnen zehn und sogar 20 Zentimeter lange Strecken überbrücken: Distanzen, die sich bislang nur mit menschlichen Nerventransplantaten bewerkstelligen lassen. In einer weiteren Versuchsreihe werden die 1,5 Millimeter dicken Röhrchen nun aber erst mal mit einem wasserhaltigen Gel – einem Hydrogel - befüllt, angereichert überdies mit Wachstumsfaktoren, damit die Nerven im Inneren der Röhre noch besser sprießen.
Grothe: “Ziel dieses EU-Projektes ist, dass wir am Ende ein Produkt haben, ein komplexes Nerveninterponat, was es ermöglicht, dass längere Defektstrecken überwunden werden können. Und das sind die Experimente, die jetzt noch die nächsten zwei Jahre anstehen.“
Das Wandmaterial der durchsichtigen Schläuche besteht übrigens aus Chitosan, einer Substanz, die aus dem Chitin von Krabbenpanzern gewonnen wird. Das Rohmaterial kommt von den Küsten Portugals. Medovent, ein Biotech-Unternehmen in Mainz, stellt daraus das biokompatible Material her. Chitosan löst sich nach mehreren Wochen im Körper einfach auf.
Nächstes Jahr schon sollen die ersten klinischen Versuche am Menschen beginnen. An dem Projekt, das die EU mit 5,9 Millionen Euro fördert, sind auch Firmen und Forschungsstätten in Spanien, Italien, Israel und Schweden beteiligt.
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