Intendantin Nele Hertling

Ein Leben für das Theater

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Die Gründerin des Festivals "Tanz im August", Nele Hertling, auf einer Pressekonferenz im Hebbel-am-Ufer-Theater (HAU).
Überzeugte Europäerin: Nele Hertling begründete unter anderem die Initiative "A Soul for Europe", die Kultur sichtbarer machen will. © picture alliance / ZB / Claudia Esch-Kenkel
Von Barbara Behrendt · 12.11.2022
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Nele Hertling hat 60 Jahre ihres Lebens an der Akademie der Künste in Berlin gearbeitet, wichtige internationale Performance- und Tanz-Festivals gegründet und das Theater Hebbel am Ufer (HAU) geprägt. Nun würdigt ein Sammelband ihr Lebenswerk.
Ein Moment am Ende des Abends spricht Bände über Nele Hertling: Da wünscht der Herausgeber des Buchs, Johannes Odenthal, ihr viel Freude beim Lesen. Denn Nele Hertling hat die fast 400 Seiten starke Veröffentlichung noch gar nicht gesehen.
Es sei ihr, sagt sie uneitel, komisch vorgekommen, sich bei einem Buch über ihre Person einzumischen. Mehr als die darin enthaltenen aufschlussreichen Gespräche hat sie nicht beigesteuert. Ohne die Akademie der Künste wäre wohl nie ein Buch über sie entstanden.
Dabei ist das, was hier fixiert worden ist, ein essenzielles Stück deutscher Kultur- und Performance-Geschichte. Dass man es mit klugen Ideen, mit Hartnäckigkeit und Vertrauenswürdigkeit schaffen kann, die Kulturparameter eines Landes zu verändern, das zeigt die Arbeit Nele Hertlings seit den 1960er-Jahren. Sie erinnert sich:

Das Wort Freie Szene gab es nicht. Die Freie Szene gab es nicht. Kein Budget, keine Auftrittsmöglichkeiten.

Nele Hertling

Sie war die erste, die Trisha Brown oder die Wooster Group aus New York nach Europa einlud. Sie machte Robert Wilson bekannt, Merce Cunningham, Lucinda Childs, Boris Charmatz, Jan Fabre – um nur einige zu nennen.

"Am Anfang sind wir beschimpft worden"

Viele Wegbegleiter haben etwas fürs Buch geschrieben oder sitzen im Publikum: Achim Freyer, Heiner Goebbels, Edith Clever. Der Berliner Kultursenator Klaus Lederer würdigt sie mit einer Rede, ihre Nachfolger am HAU, Matthias Lilienthal und Annemie Vanackere, sitzen mit ihr kollegial auf dem Podium.
Hertling wollte nicht nur die Avantgarde-Kunst nach Berlin bringen, sondern neue Werke mit diesen Künster:innen in Europa erschaffen:

Eine Motivation war eben auch, den Politikern klarzumachen: Solche fantastische Kunst könnt ihr auch in Berlin erzeugen, wenn die Strukturen dafür geschaffen werden.

Nele Hertling

Dafür hat sie sich mit Produktionshäusern etwa in Salzburg, Amsterdam und Brüssel zusammengetan, von Außenstehenden als „die Mafia“ bezeichnet, als sei hier tatsächlich großes Geld im Umlauf. Von der Presse kam Gegenwind.
„Am Anfang sind wir beschimpft worden", erinnert sich Hertling. "Wie kann man in so einem schönen alten Berliner Haus international fremde Sprachen machen, das passt alles nicht. Ich hab mir die Kritiken noch mal angeschaut, das war unglaublich, es wurde eigentlich alles abgelehnt.“

Elegant, stur und geduldig

Doch wie konnte sie sich als Frau mit drei Kindern in den 1960er-Jahren beruflich durchsetzen? Hortensia Völckers, die künstlerische Leiterin der Bundeskulturstiftung, beschreibt Hertling herzerfrischend so:
„Vielleicht zwei Charakteristika. Sie schlug sich, genau wie ich, mit sehr vielen Männern rum. Und ich konnte sehen, mit wie viel Eleganz sie doch sehr genau durchsetzte, was sie wollte, und das war eindrucksvoll. Und sie hat mich reingelassen in diese Zirkel und mir mit ganz viel Großzügigkeit die Sachen gezeigt.
Später, als ich nun plötzlich auf der Förderseite war, hatte ich natürlich eine andere Nele kennengelernt. Auch wieder elegant. Aber so stur! Unglaublich! Und ich bin überhaupt nicht so elegant. Und sie ist geduldig. Und dann habe ich gesagt: Nein, das finde ich schrecklich, wenn es um Tanz geht, warum müsst ihr das machen?
Und sie ließ das alles über sich ergehen und fing wieder von vorne an. Und nach dem dritten Mal hab ich gedacht: Na, gut, dann ist es so, dann macht es eben so. Und sie bekam alles, was sie wollte. Und das muss man erst mal machen.“

Die Kunst im Zentrum

Legendär auch ihr kollegialer Führungsstil und das gemeinsame Mittagessen, das sie am HAU einführte: Jeden Tag kochte jemand aus dem Team für alle, Hertling erzählte von ihren Treffen mit Künstlern und Politikern – alles lag offen auf dem Tisch.
„Wir sind bis heute Freunde und wir treffen uns bis heute alle paar Monate zu einem Essen", sagt Hertling.
Anrührend ist es, mit welchem Respekt Kulturpolitiker über sie schreiben und mit welcher Zärtlichkeit es ihre Schützlinge tun. „Mit ihr zu sprechen, ist stets wie Balsam“, schreibt Cesc Gelabert, der an diesem Abend eine wunderschöne kleine Sequenz des viel zu früh verstorbenen Choreografen Gerhard Bohner tanzt.
Bei Nele, so beschreiben es alle, stehe die Kunst im Zentrum. Nicht das Festival, nicht der Erfolg oder die Publikumsresonanz – allein die Kunst und die Menschen, die sie erschaffen.

Die Musik als Heilmittel

Dabei wurde Hertling, auch davon handelt das Buch, in eine Zeit der politischen Katastrophen geboren, in der es Kunst schwer hatte. Ihre jüdische Mutter, Musikwissenschaftlerin und Pianistin, hatte unter den Nazis Berufsverbot, der Vater, Komponist, ebenfalls. Inmitten dieser unruhigen Kindheit merkte die Tochter, dass Kunst tröstet. Einschlafen konnte sie nur, wenn die Mutter für sie Klavier spielte, erinnert sie sich:
„Das hat natürlich dieses Angstgefühl weniger wichtig werden lassen. Zu wissen, da ist jemand. Und die Musik war einfach ein wunderbares Mittel, um sich in eine andere Welt hineinzuträumen.“
Noch mit ihren 88 Jahren treibt Nele Hertling Herzensprojekte voran wie „A Soul for Europe“, bei dem Europa mithilfe von Kunst gestärkt werden soll. So wie die Kunst sie selbst ein Leben lang gestärkt hat. Und sie die Kunst.

"Ins Offene. Nele Hertling – Neue Räume für die Kunst" 
Hg. Johannes Odenthal im Auftrag der Akademie der Künste 
Akademie der Künste, Berlin / Spector Books, Leipzig 
368 Seiten, 200 Abbildungen, 29 €

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