Necla Kelek über Flüchtlinge und Integration

"Muslime brauchen dringend Aufklärung"

Die Soziologin Necla Kelek kritisiert bestimmte Traditionen der islamischen Kultur.
Die Soziologin Necla Kelek: "Die meisten Religionen sind patriarchale Religionen." © imago
Moderation: Martin Steinhage · 13.02.2016
Die Sozialwissenschaftlerin und Publizistin Necla Kelek ist skeptisch, ob die Integration hunderttausender Flüchtlinge aus islamisch geprägten Staaten gelingen wird. Die größte Hürde bei der Integration sei das Welt- und Menschenbild des Islam.
Den meisten muslemischen Flüchtlingen werde es schwer fallen, sich von den überkommenen Regeln und Vorstellungen des Islam zu lösen, meint die Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek. Wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration der Muslime sei daher Aufklärung über das Wertesystem und die Vorzüge unserer freiheitlichen Gesellschaft.
Im Interview mit Deutschlandradio Kultur bezeichnete Kelek den Islam im Hinblick auf die Frauenrechte als "eine der rechtlosesten Religionen". Außerhalb der Familie habe die Frau keinen Platz. Aber auch innerhalb der Familie komme den Männern die Aufgabe zu, über Frauen und Mädchen zu wachen.
Um diese patriarchale Ordnung herzustellen, würden Mädchen früh verheiratet und in die Mutterschaft gedrängt. Doch das Kind gehöre der Frau nicht. Gehorche die Frau ihrem Mann nicht, könne er sie verstoßen - sie müsse dann ohne Kinder gehen.
Reformen dieser Gesellschaftsordnung würden auch von deutschen Islamverbänden nicht unterstützt, nicht zuletzt weil diese finanziell von den Herkunftsländern abhängig seien. So könne aber kein Euro-Islam entstehen, "in dem wir als freie Bürger unsere Religion selber wiederfinden", beklagte Kelek. Das müsse aber das Ziel sein.

Das Interview im Wortlaut:
Deutschlandradio Kultur: Mein Gast in dieser Ausgabe von Tacheles ist Necla Kelek. Guten Abend, Frau Kelek.
Necla Kelek: Guten Abend, Herr Steinhage.
Deutschlandradio Kultur: Sprechen möchte ich mit der promovierten Sozialwissenschaftlerin und Publizistin, die in Istanbul geboren wurde, seit Jahrzehnten in Deutschland lebt und seit gut 20 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft hat, über das Thema Integration, also über einen Prozess, den Necla Kelek selbst erlebt und durchlebt hat, bevor sie begann, sich damit professionell zu befassen.
Beginnen will ich unser Gespräch mit dem Gegenteil dessen, wofür Integration steht. Rund sechs Wochen ist es her, dass Hunderte, meist muslimische junge Männer vor dem Kölner Hauptbahnhof, aber auch anderswo in Deutschland, eine große Zahl von Frauen nicht nur bestohlen, sondern auch sexuell massiv bedrängt haben – bis hin zu Vergewaltigungen.
Glücklicherweise ist es in der jetzt abgelaufenen Faschings- und Karnevalszeit nicht zu weiteren Übergriffen größeren Ausmaßes gekommen, vielleicht auch deswegen, weil Polizei und Sicherheitskräfte nunmehr für das Thema sensibilisiert sind. Noch immer sind jedoch die Empörung und das Entsetzen über die Ereignisse in der Silvesternacht hierzulande groß.
Frau Kelek, haben Sie diese brutalen Übergriffe an Silvestern ebenso überrascht wie die meisten von uns?
Necla Kelek: Ja. Es hat mich überrascht. Erst wussten wir ja auch nicht, um welche Gruppe von Männern es sich handelt, ob es überhaupt nur feiernde Männer waren. Erst nach ein, zwei Tagen haben wir dann erfahren, dass es eben nordafrikanische Männer waren. Und dann musste ich gleich an den Tahrir-Platz denken.
Deutschlandradio Kultur: An den Tahrir-Platz denken, wo es vor zwei Jahren kollektiv sexuelle Übergriffe muslimischer Männer in Kairo gegeben hatte. - Frau Kelek, was meinen Sie? Wo liegen die Wurzeln für dieses Phänomen?
Necla Kelek: Ich war im Dezember wieder in Kairo und wieder an diesem Tahrir-Platz mit meinem Sohn, der 20 Jahre alt ist. Da konnten wir auch merken, dass da kaum Frauen auf der Straße sind, - sehr, sehr, sehr viele junge Männer, die irgendwie versuchen, den Tag zu begehen, wo irgendwas Spannendes für sie passieren soll.
Darin sehe ich die Hauptursache, dass gerade in islamischen Ländern jungen Menschen nicht wirklich was gegeben wird von staatlicher Seite oder von der Gesellschaft, dass sie aus ihrem Leben was Friedliches, was Sinnvolles machen können. Darin sehe ich einen ganz wichtigen Grund, warum sie als Gruppe immer so auftreten und irgendwie ihr Leben, ihr Sein besonders auf der Straße bewältigen müssen.
Deutschlandradio Kultur: Wir haben jetzt gesprochen über Nordafrikaner, über Ägypter. Sie haben sich unter anderem in Ihrem Buch 'Die verlorenen Söhne" mit den Einstellungen und Haltungen männlicher Migranten mit türkischer Herkunft befasst. Ist das Phänomen dieses aggressiven, rücksichtslosen Frauenbildes, wie es Silvester deutlich wurde, also keinesfalls nur auf Männer aus dem Maghreb oder von der Arabischen Halbinsel beschränkt?
Necla Kelek: Dass Männer Frauen belästigen, ist weltweit leider ein trauriger Zustand. Aber dass in islamischen Ländern der Mann sich solche Rechte nimmt, über die Frau zu verfügen, hat schon mit seiner Sozialisation und mit den Werten zu tun, die ihm vermittelt werden. Er hat eigentlich von Allahs wegen das Recht, über die Frau so zu herrschen.
Deutschlandradio Kultur: Von Ihnen gibt's ja den Satz: "Die kulturelle Prägung eines islamischen Welt- und Menschenbildes trifft auf den libertären Freiheitsbegriff unserer Zivilgesellschaft" - und dann muss es sozusagen krachen, salopp gesagt?
Necla Kelek: Ja, weil der Islam erwartet als Regime von seinen Gläubigen Untertänigkeit. Die Einzelnen haben keine Fragen zu stellen über den Islam an sich oder warum er sich so verhalten muss. Also, es wird von ihm eigentlich erwartet, dass er den Älteren gehorcht. Und die Älteren sagen, vermittelt durch wieder Ältere, was er zu sein hat und was nicht. Und eine der wichtigsten Mächte, die dem Mann gegeben worden sind, ist, dass er dafür über seine Frau herrschen darf.
Deutschlandradio Kultur: Welchen Einfluss hat bei dieser frauenverachtenden Haltung auch und gerade im Islam die weit verbreitete Tabuisierung alles Sexuellen?
Necla Kelek: Der Islam versucht als Ordnungssystem besonders Männer und Frauen, also das Geschlechterverhältnis zu ordnen. Und es gibt auch im Koran die entscheidenden Verse, dass eine Sexualität außerhalb der Ehe auch mit Tod zum Beispiel bestraft werden muss. Und er gibt noch weitere Punkte vor, wie die beiden Geschlechter zueinander überhaupt zu stehen haben. Das ist das Familienrecht, das eigentlich in all diesen Ländern leider noch herrscht – bis auf die Türkei und teilweise in Tunesien, da steht das Personenstandsrecht, das heißt, das Familienrecht, in den Händen der Imame. Das heißt, das ist ein Scharia-Recht.
Dieses Recht bildet die Familie und kontrolliert ganz besonders die Sexualität der Frau. Das ist das A und O. Das ist eine kulturelle Differenz. So wie wir einem Individuum, einem Menschen, einem Bürger hier in der Gesellschaft begegnen - das ist eine vollkommen konträre Gesellschaftsordnung.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir noch bei dem Frauenbild speziell im Islam. Es geht ja nicht nur um Vergewaltigungen, sondern auch um Dinge unterhalb der Schwelle brutaler Gewalt gegen Frauen – um Phänomene, die man vielleicht salopp als Macho-Kultur bezeichnen könnte und die auch hierzulande zu beobachten sind, in letzter Zeit verstärkt zu beobachten sind.
Also, als Beispiel: Manche muslimische Männer weigern sich, Frauen die Hand zu geben. Manche muslimische Männer können Frauen im Berufsleben nicht akzeptieren. Manche muslimische Eltern lehnen es ab, dass ihr Kind von einer Lehrer-"in" unterrichtet wird. Oder noch ein Beispiel: In zahlreichen deutschen Schwimmbädern wurden weibliche Badegäste von jungen muslimischen Männern belästigt. - Ist dieses Verhalten ebenfalls eine direkte Folge des Islam und seines Frauenbildes? Oder gibt es dafür andere Gründe?
Necla Kelek: Der Islam gibt eine Werteorientierung, wie die Ordnung gesichert sein kann in einer Gesellschaft. Das ist entscheidend, dass Männer und Frauen sich nicht begegnen. Die Frau kann nur sich selbst innerhalb der Familie frei fühlen. Außerhalb der Familie hat sie eigentlich keinen Platz. Und die Männer müssen dafür sorgen und sie da bewachen, dass sie eben diese Kontakte weder herstellt, oder dass diese Kontakte mit fremden Männern nicht zustande kommen. Das ist seine Hauptaufgabe.
Ich glaube auch, mit dieser Last, die den Jungen ja so gegeben wird und die von ihnen gewollt wird, leidet er auch selber darunter, ein selbstbestimmtes und ein eigenständiges Leben zu führen, wo sich auch vielleicht ganz andere Fähigkeiten herausbilden würden, wenn er ein freier Geist, ein freier Mensch, ein freier Bürger wäre. Aber es wird ihm aufgebürdet, über die Frau, über seine Frau, über die Mädchen in der Familie zu wachen. Und somit wird er zum Wächter ernannt. Das ist eine sehr, sehr erdrückende Aufgabe.

Die meisten Religionen sind patriarchalisch – auch der Islam

Deutschlandradio Kultur: Frau Kelek, vielleicht können Sie mir da helfen. Bei der Vorbereitung fiel mir auf, Gewalt gegen Frauen, Frauenfeindlichkeit, Frauenverachtung gibt es doch zum Beispiel auch sehr ausgeprägt in Indien, das in seiner großen Mehrheit nicht islamisch ist. – Läuft das also vielleicht eher darauf hinaus, dass diese Probleme überall dort auftreten, wo es starke patriarchalische Strukturen gibt?
Necla Kelek: Ja. Die meisten Religionen sind patriarchalische Religionen oder hierarchische Religionen. Gott ist ja auch ein Mann. Und Gott spricht zu Männern. Und Männer sind die Ordnung. Das erleben wir auch in einem Kastensystem wie dem Hinduismus, wo das Mädchen sehr früh verheiratet wird, weil, ohne einen Mann hat sie keinen Kopf. Ihr Kopf, ihr Verstand ist ja der Mann. Und dann ist sie überhaupt ein Mensch, wenn sie verheiratet ist. Aber sie lebt auch ein Leben lang in der Familie des Mannes und hat kein eigenständiges Leben – nur dass sie dort eben nicht eingesperrt wird, dass sie keinen Tschador oder Schleier tragen muss und auch das Haus verlassen darf.
Ich finde, dass der Islam eine der rechtlosesten Religionen ist, was die Frauenrechte betrifft. Und dass sich das bis heute so gehalten hat, hat damit was zu tun, dass die Männer und besonders die Diktaturen, in denen in den jeweiligen islamischen Ländern, eine Reformbewegung nie zulassen und jede einzelne Bewegung sofort im Keim ersticken und jeden Einzelnen verfolgen.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben bereits kurz die Scharia angesprochen. Ist eigentlich der Einfluss der Scharia auf das Ehe- und Familienrecht unterschiedlich stark ausgeprägt in den unterschiedlichen muslimischen Staaten? Oder kann man sagen, das sind überall in ähnlicher Weise die Auswirkungen?
Necla Kelek: Das Familienrecht macht überhaupt den islamischen Staat aus. Das heißt, die Bewachung der Mädchen, der Frauen, ist ja der islamische Staat. Das ist auch im Koran an verschiedenen Stellen vorgegeben. Wie diese Heirat stattfinden soll, ist auch keine sakrale Bestimmung, sondern es ist ein Familienvertrag, dass sich zwei Menschen verehelichen – nicht wie im Christentum zum Beispiel, dass die Ehe etwas Sakrales ist und auch bis zum Tod die Monogamie vorgeschrieben ist eigentlich.
Es geht dann so weit, dass, um diese Ordnung herzustellen, besonders die Mädchen sehr früh verheiratet werden und sehr früh ein Kind bekommen sollen. Dieses Verhältnis von Mutter zu Kind ist eigentlich auch dieses Korsett oder das, was diese Ordnung hält, weil, das Kind gehört ihr nicht. Sobald sie also nicht gehorcht, und sie muss ihrem Mann gehorchen - Sure 4.34 -, wenn nicht, dann wird sie bestraft von ihm, und wenn sie nicht gehorcht und wenn er mit ihr irgendwann nicht einverstanden ist, hat er das Recht der Verstoßung, dann muss sie ohne die Kinder gehen.
Sobald sie also früh verheiratet wird und ein Kind bekommt, ist sie an diesen Mann und die Familie gebunden. Wie viele Mütter können dann einfach das Kind da zurücklassen und weggehen? Also, versucht sie zu gehorchen und versucht innerhalb dieses Familiensystems eher aufzusteigen. Das kann sie mit dem nächsten Sohn, den sie dann wiederum so ähnlich, wie sie verheiratet wurde, verheiratet, und ein kleines Stück Status bekommen – aber immer innerhalb der Familie, nie in der Öffentlichkeit.
Deutschlandradio Kultur: Es ist immer wieder zu lesen, Frau Kelek, dass Islam und Patriarchat nicht zwangsläufig zusammengehören, dass der Islam eine liberale Auslegung des Koran erlaube und den Respekt vor Frauen gebiete. - Ist das eine aus Ihrer Sicht unhaltbare Behauptung? Oder liegt es vielleicht daran, dass der Koran an vielen Stellen nicht eindeutig ist?
Necla Kelek: Es gibt sehr widersprüchliche Stellen. Der Prophet hat auch gesagt: Derjenige ist mir am nächsten, der zu seiner Frau gut ist. Aber wenn Sie dann die anderen Suren sehen, die sich als Gesetz in diesen Ländern verfestigt haben, dann sehen Sie, dass es der Gnade des Mannes überlassen ist. Er kann also die Sure nehmen - bei Ungehorsam die Frau schlagen. Wenn sie ihm sexuell nicht immer zur Verfügung steht, wenn er das möchte, kann er sie verstoßen. Er kann bis zu vier Frauen nehmen. Die Frau dagegen hat überhaupt keine Möglichkeit, ihr Leben selbst zu gestalten.

Islamische Flüchtlinge kommen aus Diktaturen

Deutschlandradio Kultur: Gibt es nach Ihrer Beobachtungen zumindest in einzelnen islamischen Ländern einen Umdenkprozess, was das Verhalten gegenüber Frauen angeht?
Necla Kelek: Die islamischen Länder sind alle Diktaturen. Die Diktaturen geben den einzelnen Menschen weder Raum noch Platz noch Möglichkeiten, sich mit dem Koran, den Hadithen und auch mit dem islamischen Recht, der Scharia, auseinanderzusetzen. Dafür bräuchte ich eine Wissenschaft. Ich bräuchte Räume, Plätze, Vereine, Möglichkeiten der Reflektierung meines Lebens. Es wird kaum etwas dem Volk gegeben. Es wird immer nur Gehorsam von ihm erwartet. So hält man sich an diese alten Werte und es ist kaum möglich, eine Bewegung überhaupt zu initiieren.
Wir sehen das am Arabischen Frühling. Es waren Studenten, die sich tatsächlich dagegen gewehrt haben und eine bürgerliche Rechtsstaatlichkeit wollten. Und wir haben sofort anschließend die Muslim-Brüder gehabt, die sofort wieder diese Form von Staat - das heißt: Männer und Frauen sind getrennt - wieder einführen wollten. Es dreht sich immer wieder um dieses Familienrecht.
Es wird auch hier in Deutschland von den Verbänden immer dieses Familienrecht angeführt. Das ist der Kern eines islamischen Landes. Davor haben die meisten Muslime selbst auch Angst, dass man es zerschlagen könnte.
Aber wir haben ja auch die anderen Bewegungen. Wie gesagt, wenn Sie überhaupt keine Möglichkeit der Wissenschaft haben, wie soll eine kluge Möglichkeit der Auseinandersetzung und Weiterentwicklung der Ideen - wie die Reformen stattfinden könnten -, wie soll das stattfinden, wenn ich keinen Rahmen und Platz habe?
Deutschlandradio Kultur: Ich möchte mal auf das zurückkommen, was Sie eingangs kurz gestreift haben. Das hatte mit dem Islam nichts zu tun, sondern mit den meist miserablen sozialen Bedingungen in vielen islamischen Ländern, vor allem eben auch für Männer: Männer, die keinen Job finden, Männer, die sich keine eigene Wohnung leisten können, Männer, die auch kaum je die Chance haben zu heiraten. – Welche Rolle spielen diese Umstände?
Necla Kelek: Dieses Modell, die Mädchen früh zu verheiraten, dass der Junge ein Wächter in der Familie ist, hat was mit standesgemeinschaftlichen Strukturen zu tun. Jetzt leben aber auch in den islamischen Ländern die Menschen ja in staatlichen Formen. Städtische Formen haben sich gebildet. Aber die alten Formen sind geblieben.
Gleichzeitig hätte es ja eine Regierung oder Menschen geben müssen, die auf diese Entwicklung andere Antworten hätten finden müssen, wie Städteplanung, wie Infrastrukturen, wie das Bildungswesen zu verändern ist, um auch diesen vielen jungen Menschen - es sind ja meistens junge Menschen in diesen Ländern - auch eine Zukunft zu bieten. Aber für die Diktatoren ist das total fremd, diese Gedanken. Sie beschützen ihre eigenen Familien und ihren eigenen Stand. Und wo das Volk bleiben soll, das interessiert sie nicht.
Deutschlandradio Kultur: Frau Kelek, die Folgen der Übergriffe in der Silvesternacht sind vielfältig. Gesetze wurden hierzulande umgehend verschärft und die Stimmung im Lande gegenüber Flüchtlingen, gegenüber Fremden ist, ich glaube, das kann man sagen, deutlich abgekühlt. - Wie beurteilen Sie, wie erleben Sie diese Entwicklung?
Necla Kelek: Wir haben dann nach dieser furchtbaren Nacht von den Zahlen erfahren. Was ich immer vermutet hatte, aber faktisch nicht sagen konnte, ist, dass von einer Million 600.000 Flüchtlinge junge Männer sind. Jetzt mit der Debatte erst beginnt ja die Sensibilisierung, darüber nachzudenken, welche Möglichkeiten können wir dieser breiten Gruppe von Männern geben.
Jetzt erst können wir überhaupt über Integrationskonzepte nachdenken, also, welche Fähigkeiten jeder Einzelne mitgebracht hat, wie diese Fähigkeiten umgewandelt werden können in einem friedlichen Miteinander. Jetzt beginnen wir erst damit. Vorher war ja immer nur diese Euphorie 'Wir müssen helfen'. Das sind Flüchtlinge aus Kriegsgebieten. Aber dass da auch ganz andere dabei sind, die das auch natürlich für sich nutzen, von diesen grauenhaften Staaten wegzukommen, ohne eine Perspektive, eine Zukunft zu haben, dass sie immer, immer mittlerweile Europa als ihre Zukunft sehen. – Dafür müssen wir Antworten haben.

Bei der Integration vorrangig auf Rechte der Frauen achten

Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir beim Thema Integration. Das würde ich gern im Folgenden mit Ihnen vertiefen. Alle Welt redet ja jetzt von Integrationskursen, klar. - Wären solche Kurse zum Beispiel auch der richtige Ort, um ganz konkret Dinge wie Geschlechterrollen und Sexualität zu thematisieren?
Necla Kelek: Ich wäre sogar dafür, dass die Rechte der Frauen vorrangig behandelt werden sollten. Einen Asylantrag sollten eigentlich die Frauen, die Mütter stellen, damit ihr Sein hier einen richtig rechtlichen Rahmen bekommt, dass sie nicht wieder abhängig ist von dem Mann, von der Gnade des Mannes, der ja den Antrag stellt und dann darüber entscheidet, was er ihr zugesteht. – Darf sie einen Kurs besuchen? Darf sie überhaupt auf die Straße?
Sie sehen ja, wenn Sie in eine Flüchtlingsunterkunft kommen, zu über 90 Prozent sind die Frauen und auch die Mädchen bereits verschleiert. Das heißt, sie tragen ein Kopftuch. Das heißt, sie leben in dieser Wertegemeinschaft der islamischen Kultur. Und sie sind auch hier sogar in diesen Unterkünften genauso rechtlos und sind dem Mann ausgeliefert wie auf der Flucht und wie vorher im Kriegsgebiet und vorher noch in den Staaten.
Das müssen wir erstmal so als Fakt akzeptieren. Und dann können wir mit den Erfahrungen, die wir ja auch innerhalb der Frauenbewegung gemacht haben - wir haben eine starke Alice Schwarzer, wir haben Terre des Femmes, wir haben so viele Frauen, die hier ein Selbstbewusstsein ja auch haben - auch sehr gute und konstruktive Konzepte anbieten. Diese Organisationen, diese Frauen sollten einbezogen werden.
Deutschlandradio Kultur: Frau Kelek, unter anderem in Ihrem Buch 'Chaos der Kulturen' haben Sie gezeigt, zu welchen Defiziten eine konservativ-reaktionäre Interpretation des Islam in den Köpfen von Moslems beziehungsweise von Migranten führen kann. Eine heikle, teilweise gefährliche Rolle spielen da ja Ihrer Meinung nach - Sie haben es auch schon angedeutet - Islamverbände und auch teilweise Islamwissenschaftler. - Für wie reformfähig oder reformunfähig halten Sie die, die hier in Deutschland wirken?
Necla Kelek: Ich sehe die Geisteswissenschaften überhaupt nicht reformbereit. Sie sehen sich nicht als Wissenschaft berufen, den Islam reformieren zu wollen in Deutschland. Ich kann das ja vielleicht verstehen, aber was ich nicht verstehe, sind die Muslimisch-Stämmigen oder Türkisch-Stämmigen, die auch Orientalistik oder Islamwissenschaften studieren, warum sie sich mit den Methoden, die wir hier haben - und zwar erkenntnistheoretisch -, sich mit dieser Materie: Koran, Hadithe, Scharia nicht auseinandersetzen und einen Weg finden, weil, wir leben ja hier in der Freiheit, tatsächlich Reformen in Bewegung setzen - und warum sie nicht Multiplikatoren für Aufklärung für Muslime sind.
Weil, die Muslime brauchen dringend Aufklärung. Die meisten wissen ja gar nicht, warum sie so handeln, warum sie ihre Tochter so behandeln, dass das sogar im Koran so steht. Weil, der Koran ist ein heiliges Buch und der einfache Muslim hat es auswendig zu lernen und keine Fragen zu stellen. Das wird sogar so heute von Islamverbänden weiter verbreitet und jede Reform im Grunde nicht erlaubt, nicht zugelassen, und diese traditionelle Form weiter konserviert.
Deutschlandradio Kultur: In manchen islamischen Ländern, ich nenne mal jetzt stellvertretend die Türkei und Saudi Arabien, wird in unterschiedlicher Ausprägung verstärkt ein konservativer Islam propagiert, in Saudi Arabien schon immer, in der Türkei neuerdings auch. - Wird diese Entwicklung in den islamischen Gemeinden hierzulande eigentlich unreflektiert übernommen, so dass es um die Reformbereitschaft erst recht schlecht bestellt ist?
Necla Kelek: Die Islamverbände sind von den Herkunftsländern abhängig. Sie werden auch finanziell unterstützt. Ganz besonders, ganz vornweg sind die saudiarabischen Menschen, die hier ihre wahhabitische Form des Islam, das ist ja noch die zugespitzteste Form der Islam-Diktatur, durchsetzen. Wir haben die salafistische Bewegung. Wir haben Macho-Kulturen in den Schulen, die sich auf diese Form von Männlichkeitsbild berufen. Wir haben jegliche Form von Entwicklung in diesem Land, wo dieser Islam sich von seiner hässlichen Seite zeigt. – Und wir reagieren trotzdem nicht.
Deutschlandradio Kultur: Also, tendenziell sind Sie an der Stelle pessimistisch, dass der Islam, der hierzulande gepredigt wird, eher noch konservativer wird?
Necla Kelek: Ja, weil, die Islamwächter sind die Verbände. Sie kontrollieren jede Form von Reform. Und sie haben Unterstützung in der Politik. Wir haben ja auch in der Politik die Integrationsbeauftragte. Ich weiß nicht, warum sie überhaupt Integrationsbeauftragte genannt wird, weil, sie ist ja nur dafür da, dass die verschiedenen Kulturen und auch der Islam hier einfach gelebt werden können, aber nicht für Integration steht. Also, da sind sie sich einig. Sie verstehen den Islam. Sie bewachen den Islam, dass er so bleibt, wie die Herkunftsländer es wünschen.
Und ich habe das Gefühl, dass wir es dadurch bis jetzt nicht geschafft haben, so etwas wie einen Euro-Islam zu bilden, dass wir als freie Bürger unsere Religion selber wiederfinden, wenn wir sie vielleicht verloren haben, und mit unseren eigenen Kenntnissen finden. Diese Möglichkeit müssen wir trotz dieser ganzen Verbände finden, finde ich.
Deutschlandradio Kultur: Es ist interessant, was Sie sagen, weil, an der Stelle käme jetzt meine nächste Frage - im Grunde genommen haben Sie die schon beantwortet: Bräuchten wir sozusagen als Grundlage für diese Debatte einen neuen gesellschaftlichen Diskurs über den Islam und seine Vereinbarkeit mit unserer modernen westlichen Gesellschaft? Wenn ich Sie recht verstehe, ist Ihre Antwort: Ja.
Necla Kelek: Auf jeden Fall. Aber die Multiplikatoren, und das ist ja die Wissenschaft, die Sozialwissenschaft prägt die Öffentlichkeit, prägt die Medien und berät die Politik. Wenn sie uns erzählen, der Islam und der Koran kann auch schön gelesen werden, und das wird dann gefeiert, wie soll es denn dann zu Reformen kommen? Warum können wir nicht in der Öffentlichkeit über die hundert Gewaltstellen im Koran diskutieren, einzeln? Warum können wir das nicht in Vereinen tun? Warum können wir das nicht in den Schulen tun? Warum kann nicht, wenn Koranunterricht angeboten wird, genau dieser Blick erstmal gefordert werden?
Erst wenn ich weiß, was ich da lese, kann ich mich doch jeweils distanzieren und mich verändern und reflektieren. Aber diese Reflektionschance wird den muslimischen Menschen nicht geboten.
Deutschlandradio Kultur: Sie sind sehr skeptisch. Gleichwohl die Frage an Ihre prophetischen Gaben: Wird die Mammutaufgabe Integration der Flüchtlinge gelingen? Oder machen wir uns da etwas vor? Sind wir da vielleicht gar naiv?
Necla Kelek: Ich weiß nicht, wie so eine große Gruppe von jungen Männern integriert werden soll. Wenn ich wieder von der Politik höre, die Familien sollten nachkommen, dann würden sie sich bestimmt besser integrieren, wissen sie, sagen sie damit ja auch, dass es schwierig ist, sie so zu integrieren. Das finde ich sehr fatal. Wie gesagt, wir können nur über die Frauen und das Recht der Kinder für uns ein Konzept finden, dass die Kinder sehr früh in der Schule hier einen Weg finden, einen individuellen Weg gehen zu können und die Frauen auch das Recht haben, ohne Diktat des Mannes ein Leben leben zu dürfen. Einen anderen Weg sehe ich nicht.

Der Islam ist ein Regime

Deutschlandradio Kultur: Frau Kelek, was ist der Islam für Sie ganz persönlich – eine Religion oder eher eine Philosophie?
Necla Kelek: Der Islam ist so, wie er sich bis heute gibt und in der Welt herrscht, ein Regime. Die Muslime selbst können nur über die theologische Auseinandersetzung, Islam zu einer Religion machen. Diese Möglichkeit müssen sie nehmen und endlich damit beginnen.
Deutschlandradio Kultur: Ich würde ganz gern noch kurz zum Abschluss über Ihre persönlichen Erfahrungen reden. Sie sind als Kind mit zehn Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Ihre Integration in die hiesige Gesellschaft der 60er Jahre war ein steiniger Weg – auf der einen Seite das Problem, in der Mehrheitsgesellschaft anzukommen, und auf der anderen Seite war da Ihr Vater, der autoritär und konservativ an religiösen Vorstellungen festhielt und diese seinen Kindern oktroyieren wollte. – Wie war das damals für Sie?
Necla Kelek: Mein Vater ist an der Freiheit, der sexuellen Freiheit der Europäer gescheitert. Das hatte er als Freiheit nicht vorgesehen und für uns als Familie auch nicht. Aber er war ein Europäer, ein säkularer Denker und hatte sich bewusst für Europa entschieden, weil er genau das wollte, was er in Istanbul schon begonnen hatte zu leben, ein bürgerliches Leben.
Wir hatten dadurch vielleicht eine andere Voraussetzung, unser Leben selbst doch letztendlich zu gestalten. Er hat versucht, in meiner Pubertät mir genau diese sexuelle Freiheit, dass ich den Mann selber aussuchen darf und ausgehen darf, zu verbieten. Aber er hat uns nie Bildung verboten. Und über diese Bildung haben alle meine Geschwister einen eigenen Weg gehen können. Wir waren neugierig auf Deutschland. Wir waren neugierig auf die Kultur dieses Landes. Und wir konnten daran auch teilnehmen, auch meine Eltern selbst übrigens. Das ist ein ganz entscheidender Weg, wenn man irgendwo hingeht.
Natürlich bewahrt man die eigene Tradition irgendwo, aber man muss sich dem neuen Land öffnen, sonst geht das nicht.
Deutschlandradio Kultur: Und diese Erfahrungen mit der eigenen Integration haben Sie offenkundig nachhaltig für Ihr Leben geprägt – bis hin zur Berufswahl.
Necla Kelek: Ja, ich habe ja einen ganz normalen Lehrberuf angefangen, das war als technische Zeichnerin, und habe dort gemerkt, dass ich sogar das Recht habe, mich politisch zu engagieren. Es war ja auch diese politische Hochphase der Gewerkschaftsbewegung, an der ich mich beteiligt habe. Und das hat mich sehr gestärkt und auch gestärkt, zu Hause meine Rechte wahrzunehmen, Bildung zu erfahren und sogar wegzugehen von zu Hause, um in Hamburg studieren zu dürfen. All diese Kraft habe ich von dieser politischen Bewegung mitbekommen. Also, ich habe mich da immer der deutschen Gesellschaft und meinen Möglichkeiten geöffnet und versucht, das zu Hause plausibel zu erklären und darzustellen.
Wenn man die Familie also mitnimmt, in diesem Fall war es meine Mutter und auch meine Brüder, dann werden Sie auch unterstützt. Wenn man natürlich nur kämpft und sich abarbeitet, dann wird man selber sehr müde und wirft auch irgendwann alles hin.
Deutschlandradio Kultur: Letzte Frage, Frau Kelek, im Verlaufe unseres Gesprächs wurde wieder mal deutlich, Sie haben sehr klare Standpunkte. Und Ihre publizistische Tätigkeit zum Thema Islam war stets begleitet von viel Zustimmung, aber auch von teilweise großer Ablehnung. Sie polarisieren. Da heißt es dann zum Beispiel bei den Kritikern, Necla Kelek arbeite unwissenschaftlich, nämlich mit Klischees und Übertreibungen. Umgekehrt werfen Sie Ihren Kritikern vor, sich und anderen Denkverbote aufzuerlegen und naiv zu sein. - Fühlen Sie sich eigentlich durch die Entwicklungen und Debatten der letzten Wochen und Monate bestätigt in Ihrer Haltung?
Necla Kelek: Ich finde, dass wir – obwohl es ein sehr trauriger Anlass ist, was Silvester passiert ist – wieder über Fakten sprechen, dass wir wieder eine Debatte führen. Und ich finde ja genau diese Debattenkultur in Deutschland so lebendig und sogar anders als in anderen europäischen Ländern. Es dürfen immer Einzelne die Hand in die Wunde legen. Das bin ich in diesem Fall.
Ich habe auch genug Möglichkeiten das zu tun. Die anderen sind aber eher Multiplikatoren und gestalten die Politik, aber das ist eben so. Mehrheitlich müssen sie unterstützt werden, damit sie auch richtig politisch was verändern können. Ich bin aber mit dieser Art - ich bin ja auch sehr streitbar und streng in meinen Auffassungen - überzeugt davon, dass es richtig ist. Ich finde, diese Rolle muss sein. Es muss Einzelne geben, die so klar sich äußern und nicht immer alles relativieren und Kuschelpolitik machen.
Ich habe das von großen Vorbildern gelernt innerhalb der Frauenbewegung, wie Alice Schwarzer, die auch immer – egal, was man ihr vorwirft – ganz klar dabei bleibt, dass die Frau weiterhin unterdrückt wird. Und ich bleibe auch dabei. Die Frau ist im Islam nach wie vor rechtlos.
Deutschlandradio Kultur: Und weil Sie klare Standpunkte haben, Frau Kelek, haben wir Sie eingeladen. An dieser Stelle ganz herzlichen Dank dafür, dass Sie bei Deutschlandradio Kultur in der Sendung Tacheles waren.

Necla Kelek, geboren 1957 in Istanbul, kam als Kind nach Deutschland. Sie studierte in Hamburg und Greifswald Volkswirtschaft und Soziologie. Ihre Doktorarbeit schrieb sie 2001 über das Thema "Islam im Alltag". Von 1999 bis 2004 war Kelek Lehrbeauftragte für Migrationssoziologie an der Evangelischen Fachhochschule für Sozialpädagogik in Hamburg. Von 2005 bis 2009 war sie Mitglied der Deutschen Islamkonferenz. Heute lebt Kelek als freie Autorin in Berlin. Sie hat mehrere Bücher sowie zahlreiche Artikel und Aufsätze geschrieben. Ihre Arbeiten wurden und werden kontrovers diskutiert, aber auch vielfach ausgezeichnet, u.a. 2005 mit dem Geschwister-Scholl-Preis der Stadt München.

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