Necla Kelek: Islam anscheinend demokratiefähig

Necla Kelek im Gespräch mit Andreas Müller · 18.02.2011
Die Publizistin Necla Kelek sieht in den Revolten in der arabischen Welt einen großen Gewinn für die Diskussion über den Islam. Die demokratischen Umwälzungen in diesen Ländern hätten auch Auswirkungen auf die Muslime in Deutschland, sagte sie.
Andreas Müller: Seit mit dem ägyptischen Präsidenten Mubarak der zweite Machthaber im arabischen Raum von den Volksmassen aus dem Amt gedrängt wurde, versuchen wir zu verstehen, was da eigentlich passiert ist. In zwei autokratisch regierten, islamisch geprägten Ländern hat unter der Maxime von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten oder vielleicht besser gesagt der Beseitigung der Unterdrückung von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten ein Umsturz stattgefunden.

Ein Umsturz, der eben nicht von Kräften des fundamentalistischen Islam getragen wurde, wie man das aus der jüngeren Vergangenheit kannte, sondern von jungen Menschen, die zunächst mal ganz einfach persönliche Freiheit verlangen. So scheint es wenigstens. Der Soziologe Ulrich Beck sagt nun, Verlierer der Revolution sei der islamische Fundamentalismus und fundamentalistische Islamkritiker wie Thilo Sarrazin und Necla Kelek, die stets behaupteten, der politische Islam bedeute Islamismus.

Ja, bei mir zu Gast ist jetzt die Publizistin Necla Kelek – schönen guten Tag!

Necla Kelek: Ja, guten Tag!

Müller: Wie beurteilen Sie die Revolution in Ägypten und Tunesien?

Kelek: Ja, was ich beobachten konnte, ist, dass die Jugend, wie Sie auch angemerkt haben, von dieser Regierung die Schnauze voll hat und wirklich eine andere Form von Regierung haben möchte. Was diese Regierung ja auch bis jetzt wirklich bewiesen hat, ist, dass sie verantwortungslos war gegenüber dem eigenen Volk.

Wenn wir sehen, in welcher Weise die Jugend zum Beispiel das Leben dort führen muss – die hohe Arbeitslosigkeit, ein so schlecht strukturiertes Bildungswesen, Gesundheitswesen, also alles eigentlich, wozu eine Regierung da ist –, in diesen ganzen Bereichen hat diese Regierung versagt, und die Jugend möchte soziale Gerechtigkeit. So habe ich diese ganze Bewegung beobachtet.

Und ich bin natürlich sehr, sehr froh, dass sie gehört wurden und na ja, ich kann jetzt einfach nur hoffen, dass genau diese Gerechtigkeit auch kommt. Also soziale Gerechtigkeit, aber auch so was wie Meinungsfreiheit und dass diese Verantwortung jetzt die Neuen, die sich gebildet haben, dieser Verantwortung sich stellen.

Müller: Wie sehr wurden Sie denn überrascht? Es ist ja wirklich so, dass viele sagen, das ist so wie damals vor dem Fall der Berliner Mauer, damit hatte niemand rechnen können, es kam über Nacht, es kam so überraschend, dass man einfach nur dastand und Wahnsinn sagen konnte. Wie ist das bei Ihnen, haben Sie Anzeichen sehen können oder waren auch Sie sehr überrascht?

Kelek: Ich war sehr überrascht, vor allen Dingen hatte ich große Angst, dass das Militär einschreitet, weil der Mubarak wurde vom Militär getragen, dass sie halt zurückschlagen werden. Das haben sie nicht getan, sie haben sich zurückgehalten. Und dass endlich auch wirklich das Volk das durchsetzen konnte, das ist auch eine ganz große Freude und natürlich auch eine Chance, dass diese Menschen selbst jetzt ihre Gesellschaft mitgestalten können und einbezogen werden.

Müller: Sind Sie denn optimistisch, so wie Ulrich Beck zum Beispiel oder auch der Islamwissenschaftler Navid Kermani, der in der "Berliner Zeitung" meint, diese Ereignisse stellten 1989 in den Schatten. Glauben Sie, dass es ein Aufbruch in Richtung westliche Demokratie ist, oder geht es doch wieder in Richtung Gottesstaat beziehungsweise werden da womöglich neue Diktatoren schon lauernd in der Ecke stehen?

Kelek: Ich halte mich an die Fakten, ich werde diesen Prozess wie alle anderen auch beobachten, und ich habe meine eigenen Fragestellungen und auch darüber, was für mich Demokratie ausmacht, meine eigenen Vorstellungen, und das übertrage ich natürlich in der Beobachtung.

Unter Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit zum Beispiel verstehe ich, dass die Frauen mit beteiligt sind – noch habe ich überhaupt keine Frau gesehen, die auch für Gleichberechtigung eintritt –, dass sie zum Beispiel mit jetzt wirkt, an dieser neuen Staatsbildung und an dieser neuen Verfassungsbildung, wie weit das gehen wird. Wie wird das Volk mit einbezogen und wie wird diese Verantwortung getragen, von wem wird sie getragen? Wie weit wird das Schariarecht eine Rolle spielen? Ich werde das beobachten.

Bis jetzt sehe ich eher, was eigentlich Mubarak ja zugelassen hat, anscheinend, diese Religionsfreiheit, und zwar den Islam so leben zu können, wie das Volk will. Wenn Sie nämlich nur die Bilder sehen: Über 90 Prozent der Frauen sind verschleiert, also tragen ein Kopftuch, Burka oder Tschador sogar. Das scheint also alles erlaubt gewesen zu sein. Dass das von heute auf morgen sich ändern soll, dass also die Frau die Freiheit bekommt zwischen einer Berufsausbildung, Selbstständigkeit, Kopftuch ja oder nein, wenn sich das tatsächlich auch durchsetzen kann, und die Frauen da auch Mitsprache haben und dieses Mitspracherecht auch bekommen von den Männern, dann ist es eine große gelungene Revolution.

Aber nur sich jetzt an der Revolution zu freuen und nicht abzuwarten, ob das kommt, das bin ich nicht. Da widerspreche ich auch Herrn Beck, in dieser Euphorie einfach zu sagen, als wüsste er, wie die Zukunft schon aussieht. Nein, so beobachte ich diesen Prozess nicht.

Müller: Es gibt natürlich die euphorische Parallele zu 89, aber man kann natürlich auch eine pessimistische ziehen, nämlich dass damals ja ganze Staatengebilde durcheinandergewirbelt wurden mit teilweise bis heute verheerenden Auswirkungen. Wir erleben in Tunesien eine gigantische Fluchtbewegung, einfach weil Teile der öffentlichen Ordnung beziehungsweise auch der Polizei zusammengebrochen sind beziehungsweise nicht in Aktion getreten sind. Ein Braindrain könnte fast schon einsetzen, dass die besten eben versuchen, woanders ihr Glück zu finden.

Wie beurteilen Sie das? Besteht diese Gefährdung für diesen gesamten Raum, dass ein Dominoeffekt einsetzt und alles komplett durcheinandergewirbelt wird?

Kelek: So kann ja nur Revolution gemacht werden. Natürlich muss erst mal alles aufgewirbelt werden, und es werden auch junge Menschen sein, die eben nicht darauf hoffen und warten, dass für sie jetzt so was wie soziale Gerechtigkeit auf einmal ausbricht. Wir leben ja auch nur mal dieses eine Leben, und wir wollen daraus ja auch das Beste machen. Und wenn mir auch persönlich diese Chance gegeben würde, würde ich das vielleicht auch versuchen.

Aber was ich mir natürlich wünsche, ist, dass diese Gestaltung der Demokratie mit dem Volk selbst geschieht, und dass auch dieses Volk das Recht hat, zum Beispiel so was wie wirklich eine Religionsfreiheit zu bekommen. Weil das ist ja immer mein Thema gewesen, wie weit Islam auch dafür sorgt und wirkt, dass keine demokratischen Prinzipien und demokratische Gesellschaft sich bilden können.

Dieser Islam, der jetzt so gefeiert wird, der ja anscheinend doch demokratiefähig ist, muss sich jetzt beweisen. Es muss sich erst mal beweisen, dass sie den Menschen eigene Gedanken zugestehen, dass auch dort endlich über islamische Theologie, kritische Theologie nachgedacht wird, dass die Menschen selbst sich ein Bild von ihrer eigenen Religion kritisch auch machen dürfen, um dann entscheiden zu können, will ich glauben oder will ich nicht.

Müller: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit der Publizistin Necla Kelek über die Umwälzungen in der arabischen Welt. Der Soziologe Ulrich Beck behauptet, Verlierer der Revolution sei der islamische Fundamentalismus – also alles, was wir sehen, sei Beweis dafür –, aber eben auch die, wie er sie nennt, fundamentalistischen Islamkritiker, wie Sie, Frau Kelek! Fühlen Sie sich als Verliererin?

Kelek: Nein, überhaupt nicht. Warum? Erstens finde ich sehr wichtig, dass in der Debatte wir über den Islam - was er ist und wie der Islam gelebt wird - eine Debatte führen können und dürfen, weil wir leben ja in der Meinungsfreiheit. Und ich hoffe wie gesagt durch diese Bewegung, dass auch jetzt in Ägypten so was möglich ist und nicht jeder mundtot gemacht wird, der diese Religion einfach kritisieren darf. Wie gesagt, ich hoffe, dass das dort möglich ist. Und ich wünsche mir einfach und setze auch meine ganze Hoffnung in diese Gesellschaft, dass sie eine Gesellschaft schaffen, die halt allen Menschen eine andere Chance bietet als bis jetzt, und dass diese Menschen diese Chance nicht aus der Hand geben.

Müller: Es scheint sich ein neues Bild aufzutun, also der Moslem als Gefahr, dieses Bild lässt sich nicht mehr aufrechterhalten. Den Rechtspopulisten und Anti-Islam-Provokateuren in Deutschland, den Niederlanden, Dänemark, der Schweiz, also Sarrazin-Fans, Wilders-Anhängern und anderen wird jetzt der Wind aus den Segeln genommen. Ist das so, begrüßen Sie das?

Kelek: Ich verstehe diesen Zusammenhang überhaupt nicht. Wir diskutieren über Islam und Integration, wir diskutieren über Islam und Demokratie hier in Europa, und das, was wir im Alltag erleben. Wir erleben Familien, die genau einen Scharia-Islam leben, die ihren Töchtern nicht erlauben, dass sie Kontakt zu Deutschen aufnehmen, dass sie mit schwimmen dürfen, mit ins Theater dürfen, dass sie nicht eben ohne den Bruder ein eigenes Leben führen dürfen, dass der Bruder als Wächter erzogen wird. Das ist doch unsere tägliche Beobachtung und was wir hier sehen.

Darüber sprechen wir, und ich suche die Verantwortung dieser Religion, wie beeinflusst diese Religion diesen Alltag und wie kann diese Religion eine Reform durchleben. Das sind doch berechtigte Wünsche. Und wer das gleich als rassistisch oder populistisch oder mit Ressentiments gleich beladen sieht, der erlaubt eben diesen Prozess der Reform nicht. Aber gerade der Islam braucht eine Reform, wenn in diesen Ländern wirklich eine Demokratie ankommen soll.

Müller: Heißt das vielleicht auch, dass wir in unserem Land eine Revolution brauchen in diesem Kulturkreis?

Kelek: Die Muslime müssen selber sich diesen kritischen Fragen öffnen, ohne dass sie Angst haben vor Wächtern des Islam - also das ist jetzt innermuslimische Auseinandersetzung, außerhalb Herrn Wilders oder Herr Sarrazin, was die alle wollen. Innerhalb der muslimischen Gesellschaft müssen wir diese Denkverbote endlich aufheben.

Wir müssen kritisch uns auseinandersetzen, was ist dieser Scharia-Islam. Scharia bedeutet, nach Gottes Geboten und Gesetzen zu leben. Wir müssen uns davon befreien, wir müssen unseren Glauben säkularisieren, wir müssen das als spirituelle Kraft für uns gewinnbringend leben lernen und als Gesetz aber endlich infrage stellen. Wir müssen uns von diesem Scharia-Islam befreien, wenn wir als Demokraten leben wollen.

Müller: Glauben Sie, dass das, was gerade passiert – in Tunesien, Ägypten, Bahrain, Jemen –, dass das womöglich wirkt in die islamische Gesellschaft hier in Deutschland?

Kelek: Ich glaube, dass die Revolution dort, wie gesagt, auch im Alltag als Demokratie ankommt, natürlich auf uns wirken wird. Ich bin zum Beispiel froh, dass ich hier mit Muslimverbänden diskutieren kann, während in den islamischen Ländern endlich nach Freiheit gerufen wird, wir hier versuchen, den Scharia-Islam zu installieren. Das ist doch eine wunderbare Sache, dass wir jetzt sagen können, wir wollen aber nicht den Scharia-Islam.

Wir wollen, dass Muslime hier selbstständig denken und handeln dürfen und ein Teil der Demokratie werden. Dass sie entscheiden dürfen, nicht für ihre Herkunftsländer, sondern hier für dieses Land und auch unabhängig von diesen Islamwächtern denkende, freie Menschen werden. Und dafür ist diese Revolution oder diese Revolte in den islamischen Ländern für uns ein ganz großer Gewinn.

Müller: Sagt die Publizistin Necla Kelek. Haben Sie vielen Dank!

Kelek: Ich danke Ihnen!

Linktipp:
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