Neben der Spur

Von Vladimir Balzer · 29.03.2010
In Natalja Kljutscharjowas Roman "Endstation Russland" sind die Figuren vom Weg abgekommen. Damit folgen sie bester russischer Tradition.
Soll man an die Zukunft Russlands noch glauben? Nach der Hälfte dieses Debütromans der 29-jährigen Journalistin Natalja Kljutscharjowa muss man diese Frage mit einem glatten "Nein!" beantworten. Am Ende des Romans weiß man es nicht mehr so genau, neigt aber zum "Ja", allerdings ohne Ausrufezeichen.

Kljutscharjowas Roman endet mit einer furiosen Selbstbefreiung der Hauptfigur Nikita, der sich mit Tausenden auf einen Demonstrationsmarsch nach Moskau befindet. Nachdem Nikita während seiner Russlandreise so viele gescheiterte Existenzen kennengelernt und deren Leben für kurze Zeit geteilt hatte, schreitet er also zur Tat.

Das Riesenreich in der Nach-Jelzin-Ära: Nikita, Anfang 20, Petersburger Student, reist ziellos durchs Land im "Obschij Wagon", wie das Buch im Original heißt, also in der billigsten Wagenkategorie, die die russische Bahn zu bieten hat.

Er trifft auf Männer, die ihren Wehrdienst nicht in Tschetschenien antreten wollen und dafür lieber zum Geheimdienst gehen. Er setzt sich mit einem intellektuellen Snob auseinander, der Russlands Misere aus der ästhetischen Perspektive sieht.

Er lernt eine Frau kennen, die mit ihren kleinen Kindern eine verlassene Bergarbeiterstadt im nördlichen Ural mit dem letzten Zug verlassen hat, bevor die Bahnstrecke stillgelegt worden ist, und die sich daraufhin in den Lokführer verliebte, der wiederum in einem Akt von Selbstjustiz einen korrupten Beamten erschoss, danach im Knast saß und jetzt Vorortstrecken befährt.

Nikita trifft auf Tuberkulose-Patienten, die fröhlich durch die Welt spazieren und andere anstecken, aber auch auf junge Frauen, die ihm den Kopf verdrehen, aber keine Bindung eingehen wollen. Die Leute, die er kennenlernt, konstruieren sich ihre eigene Wirklichkeit: Vor einer Moskauer Metro-Station sieht der Reisende einen Penner, aber - natürlich! - ist er eigentlich ein Wissenschaftler mit zwei Hochschulabschlüssen. Er sei allerdings "von der Wissenschaft enttäuscht und zum 'Wanderphilosophen' geworden", wie man liest. Er erteilt jedoch bei Bedarf gerne "Lektionen über den Sinn des Lebens".

Nach diesen und vielen anderen Erlebnissen fällt der arme Nikita des Öfteren in Ohnmacht. "Nicht wie gewisse Turgenjew'sche Fräulein" - also bei "einem hässlichen Wort oder dem Anblick von Blut". Nein, er nimmt sich einfach alles zu sehr zu Herzen, so dass es sein Organismus "nicht mehr aushielt und sich selbsttätig abschaltete".

Es ist in diesem Roman wieder alles dabei, was die russische Literatur schon seit zwei Jahrhunderten ausmacht: die Verrückten, die Fatalisten, die Opportunisten, die Dauerkranken, die Zyniker und die einsamen Helden; Männer, die entweder dem Alkohol zuneigen oder ihre angebliche Schwachheit zelebrieren; Frauen, die lange Geduld mit diesen Männern zeigen (einige meinen: zu lange) und dann am Ende, meist im letzten Moment, doch ihr Schicksal in die Hand nehmen - ohne diese Männer.

Und: Es sind die Verirrten, die politisch und gesellschaftlich Gestrandeten, die Kljutscharjowa interessieren. Daraus hat sie aber kein Panoptikum verfasst, sondern einen Roman, der voll im literarischen Saft steht; prall, pointenreich, dynamisch und voll bitterem Witz. Die junge Autorin schreibt über ein Russland, das der Westen seit Generationen zu verstehen sucht und immer wieder daran scheitert.

Worin liegt also die Zukunft des Landes? Im autoritären Regime oder in der Demokratie? In einem Zarenreich oder in einer Bürgergesellschaft? Natalja Kljutscharjowa lässt die Frage offen und lässt es lieber eine ihrer Figuren sagen: "Dein Russland, das ist in dir."

Besprochen von Vladimir Balzer

Natalja Kljutscharjowa: Endstation Russland
Roman. Aus dem Russischen von Ganna Maria Braungardt. Suhrkamp, Berlin 2010, 187 Seiten, 9,90 Euro