Nebel um die Mutter

Rezensiert von Vladimir Balzer |
Tim Binding ist mit seinem Roman "Henry Seefahrer" ein kleines Meisterwerk gelungen. Auf verschiedenen Zeitebenen und an verschiedenen Handlungsorten erzählt er die Geschichte von Henry, der im Kindesalter von seiner Mutter verlassen wird.
Ein Alptraum: Man ist noch zu klein, um sich in einer großen Stadt wie London zurechtzufinden, die Mutter will nur noch schnell ihr Portmonee holen, weil sie es glaubt in einem Café liegen gelassen zu haben. Und dann ist sie weg. Verschwunden im Nebel. Sie verschwindet einfach und sie ist lange weg. Die Kindheit geht vorüber, die Jugend, das Jung-Sein. Nichts. Sie bleibt weg.

Dies ist Henry passiert. Henry Seefahrer. Er wird es, sehr viel später: Seefahrer. Aber was wird sonst aus so einem Menschen, der als Kind von dem Gefühl geradezu erschlagen wurde, von seiner Mutter verlassen worden zu sein?

Er wird aufgenommen von einem Tagelöhner, der ihn für seine Arbeit anstellt. Doch da bleibt Henry nicht, er wird Balljunge in Wimbledon. Eines Tages glaubt er, seine Mutter im Publikum sitzen zu sehen. Gerade als er losrennen will - zu ihr auf den Rang - läuft er in seinen Freund Richard hinein und verliert das Bewusstsein. Schon wieder: Nebel um seine Mutter. Richard – sein Freund. Er wird ihn später wieder sehen, aber beide werden Gezeichnete sein.

In der Zwischenzeit sieht sich Henry plötzlich auf einem Luxusliner wieder, der während des Falkland-Krieges von den Engländern zu einem Militärschiff umgewandelt wurde. Er spielt dort auf seiner Geige, um die Soldaten etwas aufzuheitern. Sie sollen auf eine Inselgruppe im südlichen Atlantik, um die Ehre Englands zu verteidigen. Aber, bitte, was sollen sie da? Den bösen Argentiniern das Fürchten lehren? Die alte Seefahrernation England wieder aufleben lassen? Henry, der Geiger, der junge Seefahrer, ist jedenfalls dabei und seine Erfahrungen werden sein Leben garantiert nicht einfacher machen.

Tim Binding ist mit seinem schon im Vorfeld hoch gelobten Roman ein kleines Meisterwerk gelungen. Weniger wegen seiner sprachlichen Feinheit, als viel mehr in seinem Vermögen, verschiedene Zeitebenen und Handlungsorte so miteinander zu verbinden, dass sie logisch miteinander verknüpft wirken und sich gegenseitig miterzählen. Von einem Krieg auf einer Inselgruppe bis zu einer Vorstadtstraße mit ihren Bewohnern. Beide – Krieg und Vorstadtstraße – erzählen die Geschichte von Henry und seinem Leben.


Tim Binding: Henry Seefahrer
Übersetzt von Rudolf Hermstein
Mare Buchverlag
608 Seiten, gebunden, 24,90 Euro