Nazi-Visionen in Peenemünde

Wo in Deutschland die Raumfahrt begann

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Der Eingangsbereich des Historisch-Technischen Museums in Peenemünde mit den Modellen einer V2 und V1 und dem Museumszug.
Der Eingangsbereich des Historisch-Technischen Museums in Peenemünde mit den Modellen einer V2 und V1 und dem Museumszug. © picture alliance/dpa/Wieland Hollweg
Von Nana Brink · 18.07.2019
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Die Geschichte der Mondlandung begann in Peenemünde an der Ostsee. Nazi-Ingenieur Wernher von Braun schoss dort das erste menschengemachte Objekt in das Weltall. Forschungsarbeit, von der später die NASA profitierte.
Das Wetter am 3. Oktober 1942 ist perfekt, als der junge Ingenieur Wernher von Braun durch den Wald am äußersten Zipfel der Insel Usedom läuft. Seit drei Jahren treibt der charismatische Leiter der Heeresversuchsanstalt in Peenemünde sein Team an. Er will hoch hinaus. Ins Weltall.
Gespannt blickt Wernher von Braun auf das "Aggregat 4", eine 14 Meter hohe Rakete, die gerade am "Prüfstand VII" aufgerichtet wird. Der Countdown läuft...
"Steuerung klar? Ist klar. Triebwerk klar? Ist klar. Schlüssel steht auf Schießen. Durchschalten! Ist durchgeschaltet."
Der Lärm ist ohrenbetäubend, als sich 8600 Kilo Alkohol und flüssiger Sauerstoff entzünden. Mit 650.000 PS schießt die Rakete schließlich in den Himmel. Wernher von Braun ist am Ziel.
"Das ist das erste Mal, dass ein menschgemachtes Objekt in den Weltall flog, der erste erfolgreiche Testschuss hier hat eine Gipfelhöhe von 84 Kilometern erreicht, es ist auf jeden Fall die erste jemals funktionierende Großrakete der Welt."

Die Heeresversuchsanstalt ist heute ein Naturschutzgebiet

Wenn man so will, beginnt die Geschichte der Mondlandung an jenem "Prüfstand VII". Um zu ihm zu gelangen, muss Philipp Aumann durch eine Dschungellandschaft fahren. Der Leiter des Historisch-Technischen Museums in Peenemünde steuert seinen Jeep durch kaum erkennbare Pfade, rechts und links zerborstene Bäume und überwucherte Bahnschienen.
"Wir fahren jetzt einmal quer über die Insel, an sich durch die historische Landschaft, wir nennen sie Denkmallandschaft, einmal quer durch, aus dem Kraftwerk raus und in die Fläche der Heeresversuchsanstalt rein, und dann bis ganz an die Nordspitze der Insel, und das ist dann dieser Prüfstand Nummer VII, von dem aus die Raketen abgeschossen wurden."
"So und hier ist die Startstelle! Erkennt man daran, das wir jetzt auf einem gepflastertem Rund mit Granitkopfsteinpflaster stehen, Beton würde reißen bei dieser enormen Hitze, die beim Start entsteht. Was dann auch noch dazu gehört zum Erlebnis dieses authentischen Ortes ist dieser Gedenkstein, Abschussstelle der A4-Rakete, stammt aus den 1990er-Jahren."
Fast das gesamte Areal der ehemaligen Heeresversuchsanstalt ist Naturschutzgebiet und für die Öffentlichkeit gesperrt. Alle 700 Gebäude sind zerstört, ihre Trümmer überwuchert. Keiner weiß so genau, was alles noch im Boden schlummert, sagt Museumsleiter Philip Aumann und stapft vorsichtig durch den Wald. Nur er, der Revierförster, und Mitglieder eines Geschichts-Vereins dürfen den Ort betreten, der die Menschheit dem Mond näher gebracht hat.

Hitler und Kennedy gleichermaßen begeistert

"Es wächst hier seit 75 Jahren zu, und man sieht schon, wie viel von so einem ambitionierten Vorhaben übrig bleibt und wie schnell das menschliche Wollen eben im Wald verschwindet."
Hier am "Prüfstand VII" beginnt auch die abenteuerliche Karriere des Wernher von Braun. Der Weltraum-Visionär, 1912 als Sohn eines Adeligen geboren, schafft es, sowohl Adolf Hitler als auch John F. Kennedy zu begeistern. Für die Nazis baut er das "Aggregat 4", das später unter dem Namen "V2" für Angst und Schrecken sorgen wird. Es wird in Peenemünde produziert und kostet zehntausenden Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen das Leben. Als von Hitler gerühmte "Vergeltungswaffe" - schneller als der Schall - detoniert sie über London, Antwerpen und Paris und bringt über 8000 Menschen den Tod.
"Wernher von Braun war in dieses System Zwangsarbeit, Kriegseinsatz, war er von Anfang bis Ende immer involviert und es ging schon damit los, dass die Peenemünde-Ingenieure aktiv eben auf die SS zugegangen sind und die wirklich gesagt haben: Das wollen wir auch, wir brauchen diese Häftlinge als Arbeitskräfte. Sie sind aktiv auf die SS zugegangen, sie sollen ihnen die liefern und das ging soweit, dass Wernher von Braun selbst in Buchenwald Häftlinge ausgewählt hat, die dann in Mittelbau-Dora zur Arbeit gewungen wurden."
Diese Nazi-Vergangenheit allerdings wird die Amerikaner später nicht sonderlich interessieren. Schon im Herbst 1945 fliegen sie Wernher von Braun und rund 200 deutsche Ingenieure in die USA. Zu wichtig ist der "missile man". Er wird nach dem Krieg weiter Raketen bauen, erst für die US-Armee, dann für die NASA. Ein größter Erfolg: Er baut mit an der "Saturn V"-Rakete, die vor 50 Jahren "Apollo 11" auf den Mond bringt. "Wissenschaft an sich besitzt keine moralische Dimension", wird er später einmal sagen.

Verklärung und Legenden um von Braun

"Wernher von Braun selber war ein sehr charismatischer Typ, und das war an sich dann der Ausgangspunkt für seine Nachkriegs-Verklärung, er hat seine Raumfahrt-Phantasien in eine US-Öffentlichkeit gebracht und wurde dann in den 50er-Jahren schon so der Seher, der Visionär des Weltalls, obwohl er weiterhin Militär-Raketen entwickelt hat zur selben Zeit."
Mit der Verklärung wachsen auch die Legenden um die Figur Wernher von Brauns. Philipp Aumann bleibt plötzlich vor einen kleinen Baum stehen.
"Wenn Wernher von Braun immer auf dem Weg zum Beobachten der Raketenstarts einen Apfel gegessen hätte, und den hier reingeworfen hätte und daraus sei dieser Baum entstanden und jetzt ist der allerdings in den Jahren darauf verfault, und man musste ihn fällen und da haben sie jetzt einen neuen gepflanzt und umso schöner, dass er dick eingezäunt werden muss, weil er sonst natürlich binnen Halbstunden von Wildscheinen aufgefressen worden wäre."
Anekdoten wie diese halten sich hartnäckig rund um den "Prüfstand VII". Dabei erzählt der Ort, den viele als "Wiege der Raumfahrt" bezeichnen, wie kein zweiter von den Schattenseiten eines technischen Meisterswerks. Heute blühen Seerosen in den Trümmern des einstigen Abkühlbeckens für die Raketentriebwerke. Auf den Gleisen, die die Zwangsarbeiter zu den Fertigungsstätten brachten, wuchert das Moos.
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"Hier haben wir zwei originale Raketenspitzen, im Wald gefunden, die ist von einem Teststart, da sieht man schon wie dieser massive Stahl sich zusammenknautscht."
Historiker Philipp Aumann steht im riesigen Treppenhaus des alten Kraftwerks der ehemaligen Heeresversuchsanstalt. Der trutzige Backsteinbau dient dem Museum heute als Ausstellungsfläche. Die zerknautschten Waffenspitzen, die das Treppenhaus zieren, gehörten einst zu einer Rakete. Ein 14 Meter hohes Modell, schwarz-weiß angemalt, steht unübersehbar auf einer Wiese vor dem Kraftwerk. Fast könnte man es für ein Kunstwerk halten.
"Das ist ein Nachbau aus den 90er-Jahren, sind ein paar Originalteile mit eingebaut worden, aber es ist ein 1:1-Modell, reine äußere Hülle, um zu zeigen, wie das Ding aussah, um das es hier geht."

Eine Waffe schneller als der Schall

Das "Ding", das hier in Peenemünde erfunden wird, nennen die Nazis "Vergeltungwaffe". Unter dem Kürzel "V2" verbreitet es Angst und Schrecken. Hitlers "Wunderwaffe" detoniert hauptsächlich in London und Antwerpen. Sie ist nicht nur schneller als der Schall, sie erreicht auch als erste Großrakete das Weltall. Wernher von Braun und sein Team schaffen damit die Basis für die moderne Raumfahrt.
"Worum es uns ja in Peenemünde geht, ist eben, wir zeigen diesen Ort als einen Ort, an dem sich ein Kriegsprojekt, ein Waffenprojekt materialisiert hat, in dem eben Terrorwaffen entwickelt wurden und Menschen zu tausenden getötet haben und eben dazu noch die Fertigung dieser Waffen mit Einsatz von Zwangsarbeitern, diese fundamentale moralische Grenzüberschreitung zu sagen, Sklavenarbeiter zum Arbeiten zu zwingen und systematisch dabei zu töten, das ist natürlich moralisch eine völlig andere Kategorie als je davor und danach in der Geschichte der Luft- und Raumfahrttechnik der Fall war."
Immer wieder trifft Museumsleiter Philipp Aumann vor dem Museum auf Menschen, die ein Selfie von sich und der "V2"-Rakete machen - und wundert sich manchmal.
"Und es ist auch wichtig für unsere Museumsbesucher, dieser touristische Konsum, eben zu sagen, ich mache hier ein Selfie davor, also es ist wirklich eines der beliebtesten Urlaubermotive der Insel. Wir haben eine Medienstation, in der man das Foto dann hochladen kann, und sich dann auf dem Monitor sieht und mit der Frage dahinter, ob sie es für angemessen halten, eben vor dem Abbild einer Terrorwaffe ein Tour-Erinnerungs-Foto zu machen. Überlegt Euch mal, in dem wie ihr diesen Ort konsumiert, seid ihr Teil dieser Erinnerungskultur um diesen Ort, und wenn sie es machen, find ich okay, aber sie sollen darüber nachdenken."

Nahtlos aus Nazi-Deutschland zur NASA

"Gewaltig, wir sind das erste Mal hier! Naja, was wir gelesen haben und was man von der Geschichte kennt, was die für Schaden angerichtet haben. – Dieses so kontroverse, auf der einen Seite so die Entwicklung von modernster Technologie und zweitens auch das Mißbrauchen der Nazi-Ideologie, da habe ich mir gar nicht so Gedanken gemacht! – Ich habe von Braun noch persönlich erlebt in den USA, dort verehrt man ihn und wenn man die Saturn-5-Rakete sieht und sich auch erinnert an die erste Mondlandung, ich meine, das hat hier gestartet!"
In der derzeitigen Sonderausstellung "Wettlauf zum Mond. Viel Lärm um einen kleinen Schritt" war es Museumsleiter Philipp Aumann wichtig, auch die Rolle Wernher von Brauns und der Heeresversuchsanstalt zu zeigen.
"Von Braun war der Leiter des Saturn-5-Projekts, also die Trägerrakete. Ganz klar sind Kontinuitäten da! Es sind Dinge, die in Peenemünde erfunden wurden, die weiter genutzt worden sind, auch in der US-Raketen-Technik und es sind natürlich eben diese Ingenieure, das sind so um die 200, die in die USA gingen und dort nahtlos weiter arbeiteten, erst für die Army, dann für die NASA, und die natürlich darüber eine klare nachvollziehbare Kontinuität schufen, und die braucht man auch nicht wegdiskutieren."

Erst die Nazis, dann die NVA, dann die Naturschützer

Museumsleiter Philipp Aumann will auch die schwierige Geschichte des Ortes nicht wegdiskutieren, um den sich immer schon Mythen rankten. Seit 1936 ist es Sperrgebiet, erst von den Nazis okkupiert, dann von der NVA. Als diese das Areal nach der Wende räumt, kommen die Naturschützer. Aber es bleibt Sperrgebiet, denn niemand weiß so genau, was alles unter der Erde liegt. Die über 700 Gebäude der Heeresversuchsanstalt sind zerstört, die 200 Kilometer Bahngleise überwuchert. An der Nordspitze der Insel Usedom liegt auch jener legendäre "Prüfstand VII", von dem aus erstmals eine Rakete das Weltall erreichte. Ein Gedenkstein erinnert an jenen 3. Oktober 1942, heute fast zugewachsen von hohen Bäumen.
"Ich denke, das gehört zur Vermittlung von Geschichte durch Gebäude, durch Landschaft mit dazu, dass der Verfall Teil ist dieser Geschichte eben und das Aufgeben, überwuchern, auch nicht mehr wichtig sein, finde ich, gehört mit dazu und deswegen werden wir einen Teufel tun und zu sagen, hier müssen wir wieder rekonstruieren, sondern schaut, dass ist jetzt der Zustand dieser Vergessens und Überformens und ich finde das Spannender, als durch eine Art Disneyland zu laufen."
Museumsleiter Aumann hält es außerdem für illusorisch, das Gebiet so zu räumen, dass die Museumsbesucher an jenen "Prüfstand VII" spazieren können. Zu teuer. Aber - ein kleiner Verein bietet schon Touren an, mit Bussen, die auf genau gekennzeichneten Pfaden bleiben müssen. Vielleicht wäre das die Lösung.
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