Naturmystik und Zivilisationskritik

Rezensent: Joachim Scholl |
Der Philosophiestudent Zach Brannagan gerät nach zu exzessiver Beschäftigung mit Hegel, Nietzsche und Schopenhauer in eine schwere Krise. Nach einigen Wirren gerät er in eine Kommune von Ausgestoßenen im Wald. Daniel Villasenor gelingt hier eine Verbindung von deutscher Romantik und amerikanischer Naturbewegung des 19. Jahrhunderts.
Die Photographie des Autors im Klappentext wird weibliche Leser tief entzücken: ein vermutlich spanisch-indianisches Gesicht von klassischer Schönheit: Wangen, Kinn und Mund hinreißend geschnitten, ernst-stolzer Blick, lange schwarze Haare. Daniel Villasenor ist Jahrgang 1966 und literarisch ein völlig unbeschriebenes Blatt. Mehrere Gedichtbände, hört man, hat der studierte Literaturwissenschaftler publiziert, im Brotberuf arbeitet er als Schmied und Pferdetrainer.

Und diese Information handfester Tätigkeiten hilft viel bei der Lektüre seines ersten Romans "Stilles Wasser". Denn es ist ein Buch, in dem Natur und Handwerk eine dominante Rolle spielen und sich mit einem ehrwürdigen literarischen Thema mischen: dem Widerspruch zwischen Leben und Geist, zwischen Tat und Gedanke, Intellekt und Gefühl.

Der Held heißt Zach Brannagan, ein Philosophie-Student, der über seiner exzessiven Beschäftigung mit vor allem deutschen Geistesriesen wie Hegel, Nietzsche, Schopenhauer in eine schwere Krise gerät. Nach einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt macht er sich auf zu einer Reise in die eigene Vergangenheit. Er will seine verschollenen Eltern suchen und damit neue Perspektiven für sein Leben gewinnen.

Schon die erste Station endet mit Gewalt und Schmerz. In einem Obdachlosenasyl in New Orleans wird Zach ausgeraubt und angegriffen. Schwer verletzt schleppt er sich durch die Wälder Louisianas. Dort, an einem See – der dem amerikanischen Original seinen Titel "The Lake" gab – trifft Zach auf die geheimnisvolle Anna Beauchamp und ihre Kommune von elf körperlich und geistig behinderten Kindern. Es sind im Wortsinn Ausgestoßene, von ihren Eltern zum Teil anonym im Wald ausgesetzt und abgeschoben.

Anna pflegt Zach gesund, er revanchiert sich durch kräftiges Zupacken in Hof und Haushalt. Anna ist wie Zach ein schwer traumatisierter Mensch, misstrauisch gegen alle Zivilisation, ein Naturkind, das unter den nächsten Anwohnern eines Dorfes als verrückte Kräuterhexe gilt. Zach wird Mitglied und Teil dieser bizarren Gemeinschaft, und mit beiderseitiger großer Scheu entwickelt sich eine zarte Liebesgeschichte mit Anna.

"Stilles Wasser" ist ein zutiefst tragisches Buch über verwundete Seelen, das zwei geistesgeschichtlich-literarische Linien auf zauberhafte Weise miteinander verbindet: die deutsche Romantik mit der amerikanischen Naturbewegung des 19. Jahrhunderts, die in Henry David Thoreaus "Walden" exemplarisch wurde. Ohne Kitsch und falsche Sentimentalität verwebt Daniel Villasenor die Motive von Naturmystik, Zivilisationskritik und psychischer Labilität zu einem grandiosen, feinsinnigen und symbolischen, dabei überaus realistischen Text.

Der detailliert beschriebene Bau einer Scheune fügt sich ebenso natürlich in die Schilderung wie die Neurosen der Figuren und eine widerwärtige Gewalttat am Schluss, die Katastrophe und Erlösung zugleich darstellt. Beklommen, berührt legt man diesen Roman aus der Hand, einen ganz neuen literarischen Ton im Ohr. Man hofft, bald mehr von Daniel Villasenor zu lesen.

Daniel Villasenor: Stilles Wasser
Roman. Aus dem Amerikanischen von Kurt Neff,
Verlag Rowohlt Reinbek bei Hamburg,
416 Seiten, € 19,90.