Naturfilm

Die Wildnis, ein Räderwerk

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Der Alteichenpfad im Revier Hubertusstock nahe der Ortschaft Eichhorst (Brandenburg). © picture alliance / ZB / Patrick Pleul
Moderation: Dieter Kassel  · 29.04.2014
Die Deutschen mögen es im Wald unordentlich, so eine aktuelle Studie des Bundesumweltministeriums. Für Naturfilmer Jan Haft ist Wildnis ein Ort, wo natürliche Prozesse ablaufen, "keine Monotonie in der Landschaft" - doch gänzlich aussperren will er den Menschen nicht.
Dieter Kassel: Alle zwei Jahre gibt das Bundesumweltministerium eine Studie zum Verhältnis der Deutschen zur Natur und zur Umwelt in Auftrag. Gestern wurde die neueste dieser Studien zum sogenannten Naturbewusstsein veröffentlicht. Das ist ein ganz dickes Ding. Aber eines der Ergebnisse lautet: 42 Prozent der Deutschen wünschen sich mehr Wildnis. Und noch viel mehr: Fast zwei Drittel sagen, es gibt Wildnis in Deutschland, ich habe sie selber schon gesehen.
Das war für mich ein etwas überraschendes Ergebnis. Deshalb wollen wir der Sache jetzt nachgehen mit Jan Haft. Er ist einer der erfolgreichsten Naturfilmer Deutschlands. Mit seiner Firma "Nautilus" produziert er regelmäßig Filme fürs Fernsehen, manchmal auch fürs Kino, und er fährt dafür, hat er immer wieder gemacht, schon auch in ferne Länder. Aber der größte Teil seiner Produktionen, der zeigt uns die Natur in Deutschland, und das übrigens sehr erfolgreich. Mehr als 160 Auszeichnungen hat es für diese Produktionen schon gegeben.
Er ist jetzt für uns am Telefon. Schönen guten Morgen, Herr Haft.
Jan Haft: Schönen guten Morgen.
Kassel: Fast zwei Drittel der Deutschen sagen, es gibt in Deutschland Wildnis, ich habe sie auch schon gesehen. Gibt es für Sie in Deutschland Wildnis?
Haft: Oh ja! Da gibt es, würde ich sagen, verschiedene Sorten und Arten von Wildnis. Wildnis ist für mich eigentlich immer ein Ort, wo natürliche Prozesse ablaufen und wo eine gewisse Strukturvielfalt herrscht, also keine Monotonie in der Landschaft ist, und wo verschiedene Arten zusammen leben, und die beginnen ja dann immer sofort, wie ein Räderwerk in einer Uhr ineinanderzugreifen, miteinander zu wechselwirken, und dann entsteht eigentlich immer Wildnis, auch wenn sie ganz klein ist, sei es ein winziges Naturschutzgebiet, eine uralte Eiche, eventuell sogar ein Eck in so einem Garten, wenn wir es denn zulassen, und natürlich und vor allem aber auch dann die großen Gebiete an den Meeresküsten oder etwa in den Alpen.
Kassel: Nehmen wir mal als Beispiel das Eck im Garten, haben Sie selber schon gesagt, wenn wir es denn zulassen, wenn der Mensch es zulässt. Naturschutzgebiet ist nichts anderes. Da haben wir Menschen gesagt, da lassen wir die Natur in Ruhe. Ist das dann wirklich noch Wildnis, weil eigentlich haben wir ja bestimmt, wo die Wildnis ist?
"Ein Überbleibsel aus einer Zeit"
Haft: Das stimmt. Ich glaube, man kann den Menschen nicht immer ausklammern und man soll ihn auch gar nicht unbedingt ausklammern. Ich glaube, was man ausklammern muss beim Thema Wildnis ist eine Nutzung, ist eine intensive Nutzung. Aber dass Menschen sich dort aufhalten und hingehen, das steht nicht im Widerspruch dazu, und das kann sogar so weit gehen, dass auch im Garten ein kleines Eck echte Wildnis ist. Erstens mal kann man ja ein Eck in seinem Garten, wenn er denn groß genug ist, komplett sich selbst überlassen, und dann muss man natürlich auch wissen und das macht die Sache wirklich kompliziert, dass häufig der Mensch Dinge in der Natur ersetzt, die es nicht mehr gibt. Ein ganz kurzes Beispiel: Eine Blumenwiese mit seltenen Pflanzen darauf, Enzianen, Orchideen und anderem mehr, wenn wir die einzäunen und sich selbst überlassen, dann sind dort nach wenigen Jahren Gehölze gekeimt und die wachsen auf zu jungen Bäumen und Büschen, beschatten diese Wiese und sind weg. Jetzt haben wir da sozusagen ein Überbleibsel aus einer Zeit. Diese Zusammensetzung dieser Pflanzenarten auf dieser Wiese ist ja eine natürliche Artengemeinschaft, natürlich entstanden, also eine Art Wildnis in einer Weise.
Aber dann muss der Mensch mähen. Einmal im Jahr muss das Mähwerk drüberfahren, um diese Büsche kurz zu halten, die Pflanzen sind daran angepasst, denn es gibt keine Auerochsen und keine Wisente mehr, die hier das Mähwerk früher ersetzt haben oder was heute das Mähwerk ersetzen muss, und deswegen ist in solchen Formen der Wildnis es sogar nötig, dass der Mensch in einer Weise wirkt.
Kassel: Nun haben einige Kollegen schon, wie ich finde, zu Unrecht angekündigt, wir führen hier ein Waldgespräch. Das tun wir nicht und ich finde, das tun wir aus einem konkreten Grund nicht. Ist nicht vielleicht der deutsche Wald am allerwenigsten Wildnis? Ich meine, meistens hat er ja irgendwas mit Forstwirtschaft zu tun.
Haft: Sagen wir es mal historisch gesehen. Ich glaube, es gibt bei uns kein größeres Waldgebiet mehr nennenswert, das seit jeher sich selbst überlassen war. Ich wage sogar die Behauptung, dass selbst die Urwaldrelikte, die wir bei uns noch haben, nicht wirklich niemals gestört worden sind, und beim Wald wird es ja sehr schnell evident, wenn eine Störung passiert, wenn Forstwirtschaft da ist, wenn der Mensch Veränderungen vornimmt, weil die Bäume ja zum Teil mehrere Hundert Jahre brauchen, bis sie ausgewachsen sind, und bis so ein Urwald sozusagen ein vollkommen natürliches Gesicht hat, vergehen sehr, sehr lange Zeiträume.
Dennoch spielt ja auch im Urwald gerade eine sehr große Rolle, dass man eigentlich auch große Tiere bräuchte, die zum Urwald dazu gehören, die im Urwald wirken, den nämlich offen halten, junge Bäume abfressen, so dass die Sonne rein kann. Nur dann hat man einen vielfältigen Wald. Das hat die groteske Folge, dass in manchem Waldnationalpark mehr Tiere am Wegrand und auf Lichtungen, wo das Forsthaus steht und so weiter, leben als in dem dichten geschlossenen Baumbestand, wo man jetzt sagt, da machen wir jetzt ein Naturschutzgebiet und nutzen den Wald hier nicht mehr und lassen ihn völlig in Frieden.
Kassel: Da sind wir bei den Tieren, Herr Haft, auch bei etwas, was mich zwar nicht erstaunt hat, aber vielleicht sogar ein bisschen traurig gemacht hat bei dieser Umfrage. Natürlich sagen die Deutschen da auch, Wildnis klar, da gibt es auch wilde Tiere, aber das kommt sehr darauf an. Sie sagen zum Beispiel in ihrer Mehrheit, welche wilden Tiere sie nicht wollen, nämlich Wölfe und Waschbären. Das klingt für mich ein bisschen so nach dem Motto, wild darf es sein, solange aber keinerlei Bedrohung davon ausgeht.
Den Wolf salonfähig machen
Haft: Den Waschbär, den mag ich, aber ich will ihn hier eigentlich auch nicht, weil er gehört ja nicht hier her. Er ist ja eingeschleppt worden und man kann noch gar nicht abschätzen, ob oder vielmehr wie hoch der Schaden ist durch den Waschbär, weil er frisst ja Vogelnester leer und macht andere Dinge, auf die die Vögel nicht eingerichtet sind, so dass man gar nicht weiß, ob er nicht vielleicht ein großer Störfaktor in unserer Natur ist, wenngleich es natürlich putzige und schöne Tiere sind.
Es ist ja wie immer: Das Bild der Menschen hängt ja oft ab von dem, was sie gelernt haben, und da spielen die Medien eine große Rolle. Die Medien gab es ja auch schon vor langer Zeit, vor Hunderten von Jahren. In Geschichten werden traditionell die Wölfe als verschlagen oder böse oder gefährlich dargestellt, und das ist noch heute so. Ich habe drei Kinder. Wenn die fernsehen dürfen und sie schauen "Wickie und die starken Männer", was ich schon gerne gesehen habe als Kind: Wickie hat vor nichts Angst, löst jedes Problem, aber wenn er in den Wald geht und da tauchen Wölfe auf, dann zittert er wie Espenlaub und hat Angst und hat keine Vorstellung, wie er mit dieser gefährlichen Situation umgehen soll, sondern rennt nachhause.
Dieses Bild, das schon jeher transportiert wird, das vielleicht aus einer Zeit stammt, wo es sehr, sehr viele Wölfe gab, die vielleicht tatsächlich hier oder dort einmal ein Problem dargestellt haben für die Menschen, das wird ja heute noch transportiert, und dann bedarf es eben einer Aufklärungsarbeit oder einer Arbeit durch die Medien, das Bild zu verändern, um den Wolf sozusagen salonfähig zu machen.
Kassel: Wir reden heute Vormittag hier im Deutschlandradio Kultur mit dem Naturfilmer Jan Haft. Anlass für unser Gespräch ist die alle zwei Jahre stattfindende Umfrage zum Naturbewusstsein der Deutschen. - Nun haben Sie gesagt, die Medien müssen Bilder verändern. Dann reden wir doch mal über Ihre, wie ich finde, zu Recht mehrfach, zigfach preisgekrönte Arbeit. Wenn diese Arbeit beschrieben wird, heißt es ja auch oft, er arbeitet mit den Mitteln des Spielfilms teilweise regelrecht.
Das was Sie zeigen an Natur - jetzt reden wir bitte nur über die Produktionen, die die deutsche Natur zeigen -, ist das wirklich Realität, oder ist das doch manchmal so eine Art Natur-Fiction?
Haft: Na ja, ein Naturfilm ist ja nie Realität im Sinne von, ich dokumentiere, was passiert, wenn ich vor die Haustür trete oder in den Wald fahre oder in ein Naturschutzgebiet fahre. Dann müsste ich nämlich 45 Minuten im schlimmsten Fall grauen Himmel zeigen, irgendeine Landschaft, Schwenk nach rechts, Schwenk nach links, ich sehe kein Tier, vielleicht springt bei Minute 17 ein Reh durchs Bild. Das wäre sozusagen der Dogma-Film, der Naturfilm, das wäre die bare Realität.
Natürlich suche ich mit der Kamera über den Drehzeitraum - und der beträgt bei Tierfilmen immer zwei Jahre - nach den Momenten, wo was Interessantes und was Schönes passiert: Tiere fressen oder landen, kommen aus dem Süden zurück, balzen, schöne Wetterstimmungen, und mache natürlich ein Best Of daraus. Alles andere wäre ja auch kreuz langweilig und der Zuschauer würde das quittieren, indem er das Programm wechselt. Das alles will man ja nicht. Man möchte ja zeigen, wie schön Natur ist. Also fügt man die Sachen auch schön zusammen.
Natur von ihrer schönsten Seite zeigen
Bei den Stilmitteln muss ich sagen, man kann ja mit modernen Kameratechniken, gerade mit der Zeitlupe und dem Zeitraffer, Dinge sichtbar machen, die man mit dem normalen Auge nicht sehen kann und die unglaublich faszinieren. Wenn ich zum ersten Mal sehe, wie nach der Schneeschmelze ein Krokus in den Alpen aus dem Boden wächst und dann die Blüte öffnet, und danach in Zeitlupe kommt eine Hummel und bestäubt diesen Krokus, dann habe ich Biologie erfahren, dann habe ich Biologie am Bildschirm gesehen, erlebt, bin fasziniert, habe vielleicht den Mund offen, weil das so faszinierend ausschaut, so wie ich es draußen nicht sehen kann, und gehe dann vielleicht im Anschluss mit einem anderen Bewusstsein über eine Bergwiese, oder fahre vielleicht auch nur über die Alpen, oder fliege über die Alpen und schaue herunter und habe was in meinem Hinterkopf, was ich vorher gesehen habe und gelernt habe, und kann dann unter Umständen auch wie auch immer bei einer Entscheidung reagieren.
Auf jeden Fall wird mir dann etwas bewusst. Das hat natürlich dann einen artifiziellen Touch, weil es eben so nicht erlebbar ist draußen. Andererseits geht es ja auch darum, die Natur zu transportieren und von ihrer schönsten Seite zu zeigen.
Kassel: Das finde ich auch alles völlig in Ordnung. Aber ich habe immer eine kleine Enttäuschung, wenn ich nach so einem Film irgendwie aufs Land fahre und mir das alles angucke. Bei mir, egal wo ich hingucke, irgendwo ist immer ein Hochspannungsmast, und wenn ich ganz genau zwischen dem Vogelgezwitscher höre, hört man auch die Fernstraße. Das sind schon Dinge, die Sie relativ absichtlich ausblenden, oder?
Haft: Ja manchmal nimmt man es sogar als Stilmittel mit rein oder ins Bild mit rein, wenn man einen ästhetisch in die Tiefe verlaufenden Hochspannungsmast hat. Wenn es ein Film ist, der in einer Kulturlandschaft spielt, dann darf man den nicht ausklammern. Wir machen gerade einen Film über den Chiemsee. Ich fahre heute Nachmittag auf eine Vor-Ort-Besichtigung.
Wir haben gestern die Genehmigung bekommen, Gebiete mit Betretungsverbot zu betreten mit der Kamera, kontrolliert, um dort zu drehen. Das dürfen wir uns heute Nachmittag anschauen. Das sind dann so kleine Wildnisgebiete. Aber der ganze Chiemsee und das Chiemsee-Umfeld ist Kulturland und da wird man auch Häuser, da wird man auch Hochspannungsleitungen und so weiter sehen. Natürlich in einem Film, wo man sich rein in der Natur bewegt, ein Film über den Wald, da schwenke ich natürlich die Kamera nach links, um den Telegrafenmast oder den Hochspannungsmast gerade nicht im Bild zu haben. Natürlich ist das ein ausschnitthaftes Vorstellen einer Natur.
Aber selbst ich, wenn ich rausgehe, gehe ja nicht auf der einen Seite des Waldes spazieren, wo der Maisacker ist und die Masten stehen und eine Biogasanlage in der Entfernung und eine Autobahn verläuft. Da fahre ich doch lieber auf die andere Seite, wo der gleiche Wald viel schöner ist, weil er mir Wald und Wiesen präsentiert. Auch der Mensch ist ja selektiv bei der Gestaltung seiner Möglichkeiten für die Wahrnehmung von Natur und das gleiche macht natürlich der Film in einer sehr viel dezidierteren Art und Weise, und natürlich muss ich bei der Vertonung des Films und bei den Tonaufnahmen, die ich mache, darauf achten, dass nicht gerade ein Flieger zu hören ist.
Das kann man im täglichen Leben, wenn ich rausgehe vor die Haustür, eher ausblenden. Aber wenn ich einen Film zeige, der sozusagen fertig konfektioniert ist, und plötzlich rauscht ein Flieger da vielleicht auch nur in einer Szene ganz kurz irgendwie akustisch hinter mir durchs Bild, dann wird das als sehr starkes Störgeräusch wahrgenommen. Der Zuschauer ist ja darauf trainiert, wie soll man sagen, ein rundes Produkt gezeigt zu bekommen im Fernsehen, und das muss man natürlich auch berücksichtigen.
Kassel: Der Spielfilm mag das auch nicht, wenn da plötzlich ein Flugzeug drüberkommt.
Haft: So ist es.
Kassel: Der Naturfilmer Jan Haft war das über Wildnis, wie es sie, er bestätigt das ja auch, auch in Deutschland gibt - die meisten der Deutschen haben das auch gesagt in einer Umfrage -, und auch ein bisschen darüber, wie er sie im Film zeigen kann. Herr Haft, vielen Dank und viel Spaß heute am Chiemsee.
Haft: Herzlichen Dank! Schönen Tag noch.
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