Nationalsozialismus und Exil

Erstmals erscheint das erzählerische Werk von Hans Keilson gesammelt in einem Taschenbuch. Darin geht es vor allem um Nationalsozialismus und die Erfahrung im Exil.
„'Ein Herr Loerke hat angerufen‘, sagte meine Mutter.“ So beginnt – schildert Hans Keilson im März 1933, noch (selbst-) ironisch beschwingt – eine literarische Karriere, die kurz darauf brutal abbricht. Er ist 23, Medizinstudent in Berlin und verdient sein Zubrot als Trompeter und Geiger mit Jazz, Schwoof und Film. Oskar Loerke ist Lektor im Fischer-Verlag. Er empfiehlt „Das Leben geht weiter – Eine Jugend in der Zwischenkriegszeit“ zur Veröffentlichung. Der Roman erscheint 1933.

1934 bekommt Keilson Publikationsverbot und besteht das Staatsexamen, das ihm im neuen Staat auch nichts mehr nützt. Keilson ist Jude. Davon erzählt sein erster Roman nicht. Autobiografisch ist er dennoch – es geht um kleine Selbständige und deren „wirtschaftlichen Niedergang, eingelassen in die politischen, sozialen und ökonomischen Wirren“. Leute wie sein Vater Max, Textilhändler in Bad Freienwalde an der Oder, und seine Mutter Else. Sie werden später in Birkenau ermordet.

Der verbotene Schriftsteller und Arzt schlägt sich als Sportlehrer und Musiker durch, flieht 1936 mit seiner Frau Gertrud Manz nach Holland, arbeitet als Erzieher und Psychotherapeut und ab 1940, als die Nazis einfallen, im Untergrund für den Widerstand. 1941, im Versteck, fängt er einen neuen Roman an und vergräbt ihn. „Der Tod des Widersachers“ wird erst 1959 vollendet und hat einen anderen, ganz eigenen Ton. Ein Anwalt gibt einem Ich-Erzähler das heimlich aufbewahrte Manuskript eines versteckt lebenden anderen Ich-Erzählers. Dem „führt der Tod die Feder“, der zu erwartende Tod seines Feindes, der ihn „mit aller Seligkeit erschauern“ lässt. Analytisch präzis vergegenwärtigt er (sich), wie dieser Feind in sein Leben kam.

Er nennt ihn B., und damit ist nicht nur Hitler gemeint, sondern die ganze mörderische Verwandlung Deutschlands, durch die umgekehrt er, der Jude, zum Feind wird. Keilsons Prosa entfaltet den Sog Kafkascher Unentrinnbarkeit. Die leise, pathoslose Langsamkeit verliert bei allen vermeintlichen Abschweifungen nie den blutroten Faden. Sie erzeugt eine unheimliche Unruhe, zieht den Leser selbst in die manische Suche nach Erklärungen im mikroskopisch Kleinen: In Vorgängen dort, „wohin die Sprache nicht reicht“ – tief im Kopf, im Körper, in Bewegungen. Sie beginnen im Kindesalter zu keimen.

1947, jetzt niederländischer Staatsbürger und Gründer einer Hilfsorganisation für traumatisierte jüdische Waisen, schreibt Keilson die „Komödie in Moll“, in der zwei Untergrundaktivisten einen bei ihnen versteckten, plötzlich gestorbenen Juden anderswo verstecken müssen und durch ein kleines Detail selbst zu Verfolgten werden.

Hans Keilson hat den „Widersacher“ nicht nur physisch und mental überlebt, er wurde ein Meister in beiden ihm einst verwehrten Disziplinen: Kunst und Wissenschaft. Auch wenn er, wieder (selbst-)ironisch, behauptet, er reite auf zwei ungesattelten Pferden und werde auf keinem ernst genommen.

Seine Dissertation, geschrieben mit 70, ist weltweit Grundlage für die Arbeit mit traumatisierten Kindern. Und auch seine Literatur ist endlich in Deutschland (wieder) angekommen: Sein Ur-Verlag hat ihn 2005 mit einer zweibändigen Gesamtausgabe gewürdigt und bringt pünktlich zum 100. Geburtstag den Erzählungsband als wohlfeiles, dickes Taschenbuch heraus.

Besprochen von Pieke Biermann

Hans Keilson: Sämtliche Romane und Erzählungen
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2009, 587 Seiten, 12,95 Euro