Nationalismus und Globalisierung

Saskia Sassen im Gespräch mit Jürgen König |
Die Soziologin Saskia Sassen vertritt die These, dass im Zuge der Globalisierung ein de-nationalisierter Raum entstanden sei, damit sich "globale Akteure" weiter ausbreiten können. Diese De-Nationalisierung geht aber einher mit einem gleichzeitigen Wiedererstarken von Nationalismen.
Jürgen König: Saskia Sassen, geboren 1949 in Den Haag, aufgewachsen in Argentinien und Italien, ist heute Professorin für Soziologie an der Columbia University in New York und an der London School of Economics and Political Science. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Prozesse der Globalisierung, Fragen also, wie die Arbeit, wie das Kapital über die Kontinente wandern und welchen Einfluss moderne Kommunikationsmittel dabei haben. Saskia Sassen prägte den Begriff der Global City, der globalen Stadt, in der wir alle leben, und sie versteht sich selbst als einen global agierenden Menschen. Sie ist zurzeit in Berlin aus Anlass einer Ausstellung des Künstlers Thomas Demand in der Neuen Nationalgalerie zum Thema Deutschland. Dazu hat Saskia Sassen in Berlin einen Vortrag gehalten.

Gestern war sie bei uns zu Gast mit der Dolmetscherin Marei Ahmia, und ich habe sie als erstes auf ihre Kernthese angesprochen, die sie auch in ihrem neuen Buch "Das Paradox des Nationalen" vertreten hat, dass nämlich das Nationale und das Globale keinen Widerspruch bilden, sondern dass die Nationalstaaten - im Gegenteil - der Globalisierung erst den Weg bereiten. Inwiefern?

Saskia Sassen: Ich muss am Anfang mit einem eindeutigen Bild beginnen, also, eine ganz klare Vorstellung davon, dass es eigentlich keine rechtliche Einheit in dem Sinne einer globalen Firma gibt. Aber dennoch gibt es 300.000 Firmen, die von sich sagen, sie seien globale Firmen, sie seien weltweit agierend. Wie funktioniert das?

Dazu muss man wissen, dass Staat um Staat auf der ganzen Welt, die ganzen Staaten sich immer mehr in eine bestimmte Richtung verändert haben, in Richtung einer De-Nationalisierung, dass sozusagen rechtliche Einheiten, legale Einheiten, institutionelle Einheiten des Staates immer stärker entnationalisiert worden sind, so dass letzten Endes ein de-nationalisierter Raum geschaffen wurde. Das war sozusagen nötig, um diese gewisse Standardisierung zu schaffen. Die war nötig dafür, dass diese globalen Akteure sich überall ausbreiten können und gleich agieren können.

König: Wenn Sie aber von De-Nationalisierung sprechen, Frau Sassen, dann sieht man auf der anderen Seite, dass es ganz viele Gruppierungen gibt, die nach dem Muster "Wir gegen den Rest der Welt" eine sehr hohe Anziehungskraft besitzen. Die Nationalstaaten, auch transnationale Gebilde wie die Europäische Union zum Beispiel, verteidigen auf der anderen Seite sehr vehement, auch aggressiv sich zum Beispiel gegen Migranten aus aller Welt, also - da spielt nationales und territoriales Denken plötzlich doch wieder eine sehr große Rolle. Wie geht das zusammen mit dem Globalen?

Sassen: Das ist eine sehr wichtige Frage. Dazu muss man sehen, dass die fortschreitende De-Nationalisierung wunderbar koexistieren kann mit einer starken Nationalisierung auf der anderen Seite oder einem Bezug auf die Nation. Ein Bereich zum Beispiel, wo der Nationalstaat besonders stark in Kraft tritt, ist die Sicherung der nationalen Grenzen. Wenn es darum geht, Flüchtlinge, Asylsuchende oder Einwanderer zurückzuweisen und nicht um den Fluss von Kapital oder Finanzen, dann ist plötzlich die Nation wieder sehr wichtig.

Zweitens muss man präsent haben, dass beide verstanden werden müssen als sehr komplexe Dinge, sie sind in sehr verschiedenen Bereichen relevant. Es gibt nicht sozusagen das Nationale und das De-Nationale oder Entnationalisierte.

Es scheint, dass auch ein Unterschied zwischen den strukturellen Bedingungen und der Ideologie besteht. Die Bürger zum Beispiel in den liberalen Demokratien, in Ländern wie diesem hier, sind dabei, zunehmend Rechte zu verlieren, und das liegt jetzt nicht nur an dem berühmten Krieg gegen den Terror, sondern das ist einfach der Verlauf der neoliberalen Entwicklungen. Das passiert sowohl unter sozialdemokratischen Regierungen als auch in Regierungen von der anderen Seite.

Das ist eine Struktur, die sich entwickelt, und diese Struktur bringt die Bürger prinzipiell von ihrem Stand näher an die Immigranten heran, wohingegen die ideologische Entwicklung, also die Ideologien, die jetzt vertreten werden, national ausgerichtet sind und diese beiden eher auseinanderbringen.

Es gibt ja zurzeit wieder ganz starke Umtriebe gegen Immigration, Anti-Immigrations-Ressentiments kommen wieder hoch, und zu Zeiten, wo beide Seiten eigentlich schwächer werden, sollte man meinen, dass sie zusammenfinden sollten, um stärker zu werden, aber das Gegenteil ist der Fall.

Nehmen wir zum Beispiel die Finanzkrise. Da benutzt der Staat ja massiv Steuergelder für die Stärkung der Wirtschaft, insbesondere zur Stärkung der Finanzunternehmen in der Krise jetzt. Das sind alles Zeichen für einen starken Staat, und das ist von Land zu Land zu beobachten. Nehmen wir zum Beispiel die USA, in denen acht Billionen Dollar zur Rettung der Banken verwendet worden sind. Das sind alles nationale Steuergelder, die dort verwendet werden, von amerikanischen Steuerzahlern.

Beim Beispiel Citybank lässt sich das ganz gut illustrieren: Für dieses internationale Bankensystem wurden amerikanische Steuergelder verwendet. Es gehört aber zu 30 Prozent auf der einen Seite den Vereinigten Arabischen Emiraten zusammen mit Singapur, weitere 30 bis 40 Prozent gehören einer Mischung verschiedener europäischer Anteilhaber, und der Rest, da sind dann vielleicht auch noch amerikanische Finanzen dran beteiligt.

Und das wird als Rettung des amerikanischen Marktes bezeichnet. In Wirklichkeit ist es aber ein globales Finanzsystem, was hier unterstützt wird, und das ist nun wirklich nicht ökonomischer Nationalismus, wie wir ihn verstehen.

König: Frau Sassen, Sie haben gesagt: Wir Bürger werden Rechte verlieren. Das beschreiben Sie auch in Ihrem Buch "Das Paradox des Nationalen". Nach Ihrer These verlieren unsere alteingesessenen, demokratischen Instrumente wie Parteien, Parlament, Wahlen, Gewerkschaften - derlei verliert an Bedeutung. An die Stelle treten längst in der ganzen Welt exekutive Verwaltungsorgane, Kommissionen, Behörden. Wenn also die Stimme des Bürgers immer weniger zählt - was sollen wir tun?

Sassen: Das ist ein sehr komplexes Thema und auch im Übergang begriffen, denke ich, und man kann hier vielleicht auch das Aufkommen einer neuen Entwicklung der Politik beobachten, einmal national und dann vielleicht auch subnational. Es gibt zum Beispiel neue Richtungen, Organisationen, Bestrebungen, zum Beispiel hinsichtlich der Menschenrechte, wo lokal gearbeitet wird. Das ist ein möglicher Weg für eine neue Politik, sehr spezifische Themen in den einzelnen Ländern auf einer Aktivistenebene anzugehen. Das variiert von Land zu Land, aber mit den eigenen Facetten des jeweiligen Landes wiederholt es sich auch.

Und dieses stete Wiederauftauchen ist etwas, was diese Länder gemein haben, es ist sozusagen eine Globalisierung in der Breite und jetzt nicht im Sinne von in einer Linie, wir ziehen das auf einem Finanzwege durch oder so etwas. Und das tritt in verschiedenen Ländern auf. Und dieses Auftauchen, würde ich sagen, ist spezifisch für diese Übergangsphase.

Ein weiteres kritisches Element hat mit dem Internationalen Strafgerichtshof zu tun. Dieser hat gezeigt, dass es jetzt für keinen Diktator mehr selbstverständlich ist, dass er dem Gesetz entkommt. Es geht mir besonders darum, klarzumachen, dass im Prinzip jeder Bürger in der Lage ist, vor dem Internationalen Strafgerichtshof einen Diktator oder einen Verletzer der Menschenrechte anzuklagen, ihn vor Gericht zu bringen. Noch ist diese Entwicklung der Menschenrechte schwach, aber es ist klar - und das steht jetzt schon fest -, dass diese Menschenrechte als Konzept bleiben werden. Das ist eine Entwicklung, die in verschiedenen Stadien stattfindet, aber die auf jeden Fall zu beobachten ist.

König: Sie sprechen in dem Buch, Frau Sassen, von einer "alternativen Globalität", und das klang ja auch schon eben mit dem, was Sie gesagt haben, an. Nun sind Sie selber ein global agierender Mensch, Sie sprechen fünf Sprachen, Sie arbeiten in London, in New York, sind geboren in den Niederlanden, aufgewachsen in Argentinien und Italien, Sie halten Vorträge in der ganzen Welt. So mobil sind ja nun die Wenigsten. Wie sollen diejenigen, die bisher gar keine Stimme haben, oft nicht mal einen Internetanschluss haben, teilnehmen an der alternativen Globalität?

Sassen: (original Deutsch) Ja, das ist eine wichtige Problematik, glaube ich, und da arbeite ich auf eine Kategorie, die Immobilität, und ich frage mich: Können diejenigen, die keine Mobilität haben, die wirklich immobil sind, die sind zu arm, zu politisch, ihr Landes zu verlassen, dann können die nie mehr zurück, oder die haben zu viel (unverständlich), ich weiß nicht, - können die Globalitäten machen? Can they make globalities - make, machen? Das ist sehr wichtig in meinen Arbeiten. Und die Antwort ist: Ja, aber unter sicheren Konditionen. Also, an einer Seite ist die Immobilität die alte Immobilität, da passiert nichts sozusagen. Aber an dem anderen Ende, at the other end of a variable, ist die Immobilität viel mehr komplex heute, als es vor 100 Jahren war, glaube ich. Und da wieder, wenn man denkt an die Aktivisten in human rights und environment, die sind ...

König: In Menschenrechts- und Umweltfragen.

Sassen: ... die sind sehr lokal, die sind nicht Kosmopoliten. Aber die wissen nun - und das ist ein Wissen, das aktiv ist, nicht wahr, auch, wenn die nicht in Kommunikation sind -, die wissen, dass ihre lokale Streiten sich repeat themselves, über die ganze Welt.

König: Also, überall sich wiederholen.

Sassen: Und das macht dann eine Subjektivität, da braucht man das Internet nicht. Man weiß das, man weiß das, denn das Radio hat es gesagt, das Television hat es gesagt et cetera, die Freunde. Und das ist, glaube ich, auch eine wichtige alternative Politik. Aber dann gibt es andere Versionen natürlich, wo die alternative Politik nicht so extrem ist wie das der immobilen. Also, wenn man denkt an Oxfam, an Amnesty International, Medicines sans frontiers, Pacifistas sin Fronteras - da gibt es eine ganze Menge Organisationen.

(ab hier wieder übersetzt) Sie fühlen, dass sie in einem globalen Raum arbeiten können, und das ist der Anfang von etwas Neuem. Ich denke, dass die alternative Globalisierung auch negative Seiten hat. Ich mag vieles daran, aber es gibt andere Aspekte, die ich nicht mag.

Also, auf der negativen Seite sehe ich - und das schreibe ich auch in meinem Buch so - eine starke Verbreitung privater, abgeschotteter, globaler Bereiche. Ein Beispiel der großen Baufirmen, die weltweit die Topografie neu bestimmen ... Seit Kyoto - ein Abkommen, das ja fast alle unterschrieben haben, inwieweit sie das nun wirklich umsetzen, ist eine andere Frage, aber fast alle Staaten haben das ratifiziert -, da sind Standards gesetzt worden, die nun von den Baufirmen erfüllt werden müssen. Aber die Baufirmen haben sich weltweit gesagt, statt jetzt einfach diesen Standards Stück für Stück zu folgen, machen wir es so: Nicht wir achten darauf, was wir tun, sondern sollen die nationalen Regierungen doch selber sehen, wo wir diese Standards eventuell verletzen. Und den meisten Regierungen fehlt auf der einen Seite das Expertentum und auf der anderen Seite einfach das Geld, um diese Standardverletzungen nachzuweisen.

Das ist nur ein Beispiel für eine negative Seite und dass diese sich vielfach multiplizieren, also, es gibt viele, viele andere. Und das ist nur, wie gesagt, ein Beispiel für die Globalisierung von verschiedenen Verhaltensstandards.

König: Vielen Dank, der Nationalstaat und die Globalisierung, ein Gespräch mit der amerikanischen Soziologin Saskia Sassen. Wenn Sie die Gedanken von Frau Sassen nachlesen wollen, Sie können das tun: Ihr jüngstes Buch, "Das Paradox des Nationalen", ist im letzten Jahr bei Suhrkamp erschienen.