Nationale Vorurteile

Lasst mir meine Klischees, sie sind so schön!

Bedienungen bei der Eröffnung des 180. Oktoberfests am 21.09.2013 in München (Bayern) mit Bierkrügen.
Viel trinken und fettig essen - ist das typisch deutsch? © dpa / picture alliance / Frank Leonhardt
Von Cora Stephan · 28.04.2016
Viel trinken und fettig essen - ist das typisch deutsch? Ohne Klischees würde Europa verlieren, ist die Publizistin Cora Stephan überzeugt. Mit britischem Humor, italienischer Küche und polnischem Freiheitsempfinden könne man weit kommen.
Obwohl viele Deutsche beim Wort "national" gleich Pickel kriegen: es gibt ihn, ganz unbestreitbar, den Nationalcharakter. Vor allem in Europa, wo man ihn, bei Lichte besehen, überhaupt erst zu seiner vollen Blüte entwickelt hat.
Oder stimmt es etwa nicht, dass die Engländer ihr Bier gern lauwarm trinken, die Franzosen das gepflegte Dinieren schätzen und die Deutschen – naja. Zwischen der geradezu kameradschaftlichen Bezeichnung als "Hunnen", eine klassisch englische Liebesbezeugung, und der Titulierung "Kartoffel" gibt es zugegeben besonders viel Spielraum.

Nichts geht über ein Vorurteil gegen andere Völker

Jedenfalls geht nichts über ein ordentliches Vorurteil, was den Charakter anderer Völker betrifft. Die pflegen schließlich selbst ihre nationalen Mythen.
Die Franzosen etwa tun gern so, als ob sie noch nie einen Krieg verloren hätten, was ihre alten Erzfeinde, die Engländer, natürlich jederzeit süffisant bestreiten. In Britannia, einst imperiale Macht, erinnert man sich lieber an die benevolente Erziehung der Eingeborenen zu zivilisierten Mitmenschen denn an koloniale Gräuel. Und in Spanien schweigt man aus naheliegenden Gründen über die Armada.
Weit angenehmer sind natürlich Vorurteile, die man Klischee nennen könnte, und die doch immer auch einen wahren Kern enthalten. Gewiss, ein Pint of Ale pladdert ohne Druck und lauwarm aus dem Zapfhahn, doch gibt es einen angenehmeren Ort, um sich zu betrinken, als einen britischen Pub?
Klar, die Franzosen können formvollendet parlieren, was sich schnell erledigt, wenn man sich auch nur wenige Kilometer von der Hauptstadt entfernt – und sie können gewiss auch gut kochen. Dass sich diese Kunst vor allem im kleinen Bistro um die Ecke abspielt, ist jedoch ein liebgewonnenes Vorurteil, das dem ahnungslosen Touristen Enttäuschung bereiten wird. Das war einmal und ist lange her.

Italiener kochen übrigens besser als Franzosen

Die leichtfüßigen Italiener kochen übrigens besser – und sie sind entspannter, sagen wir mal: südlich von Mailand.
Auch gelten Italiener als besonders familien-freundlich, mögen also Kinder. Das kann man schön finden oder auch nicht: denn nur den Spaniern scheint es zu gelingen, die Kleinen beim meist sehr spät eingenommenen Mahl auch ruhig zu halten. Und "Familie" bedeutet in Italien mancherorts das, was man als Camorra kennt: gemeint ist der Clan, der staatliche Autorität nicht anerkennt. Kinderfreundlich ist das nicht notgedrungen.
Und doch: was wären wir ohne unser erwartungssatten Vorurteile – und ohne das Vergnügen, sie ab und an revidieren zu dürfen.
Nein, die Deutschen sagen nicht alle naselang "Achtung". Dass sie ordentlich und pünktlich sind, trifft jedoch noch immer zu, jedenfalls im Berufsleben. Das wird weltweit geschätzt, allerdings nicht dort, wo man es anderen verordnen will. Etwa in Griechenland.
Und ja, die Engländer haben Humor, doch, das ist verbürgt. Nur nicht, wenn es um ihre nationale Souveränität oder die Temperatur des Biers geht, da sind sie blasiert.

Manchmal werden Klischees sogar Wirklichkeit

Ach, so möge Europa bleiben, so chaotisch, so vielfältig. So voller schöner Klischees, die sich manchmal sogar der Wirklichkeit annähern. Was würden wir verlieren, wenn wir alle nur noch unterschiedslos Europa wären?
Europa ist in blutigen Konflikten zu etwas geworden, was weltweit seinesgleichen sucht: ein Kontinent, auf dem Reibung und Konkurrenz zu Freiheit und Wohlstand geführt haben. Ich wüsste nicht, wo ich lieber wäre – Klischees und Vorurteile inklusive. Mit britischem Humor, italienischer Küche, französischem Stilgefühl und belgischem Bier. Und, nicht zu vergessen: mit deutschen Autos und polnischem Freiheitsempfinden.
Mit alledem kann man ganz schön weit kommen.

Cora Stephan, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin, Publizistin und Schriftstellerin, lebt in Oberhessen. 2016 erschien ihr Roman "Ab heute heiße ich Margo". Mehr unter www.cora-stephan.de.





© picture-alliance/ ZB
Mehr zum Thema