Nationale Identität ist verflogen

Von Michael Böhm |
Noch vor zwei Generationen waren wir Deutsche, Italiener, Franzosen oder Spanier. Das eigene Land verlieh uns durch kulturelle Eigenarten eine nationale Identität. Doch inzwischen sei die nationale Identität passé, meint der Publizist Michael Böhm.
"Identität", heißt "Gleichheit" und bekommt erst durch Ungleichheit ihren Sinn, sie setzt die Existenz des Anderen voraus. Die Identität des Ichs, die Eigenschaften eines Menschen, sind gepaart mit einer Identität des Wir: mit Herkunft, Erziehung, Bildung – kurz, mit einer Kultur, die er mit Anderen teilt.

Doch was macht unsere nationale Identität aus? Unsere Sprache, das Deutsche wird auch in Österreich und der Schweiz gesprochen. Unser Rechtssystem verliert heute seinen nationalen Charakter, in dem es Menschenrechte und europäische Gesetze überlagern. Bliebe noch Brauchtum und Mentalität: Etwa, dass man am Heiligen Abend eine Tanne aufstellt und diszipliniert, harmoniesüchtig und idealistisch ist, so wie dies etwa die Franzosen vor 100 Jahren als typisch deutsch empfanden.

Aber im ersten Fall tun dies heute auch Menschen in anderen Ländern und im zweiten Fall ist man froh, Derartiges nicht mehr als nationale Eigenart vorzufinden.

Tatsächlich ist Identität ein modernes Problem. Im Mittelalter stellte es sich nicht, da ein Selbst außerhalb einer Gemeinschaft nur schwer denkbar war. Wer man ist – das ergab sich daraus, ob man zu Klerus, Adel oder Bauerntum gehörte und wem man Loyalität schuldete.

Erst die Philosophie der Aufklärung rief die Frage nach der Identität auf den Plan: Die Menschen sollten "frei" und "gleich" sein und zuerst ihr eigenes Interesse verfolgen – so wie es das Christentum vorgab, in dem die Menschen vor Gott frei und gleich sind; und so wie es auch der Markt fordert, auf dem Verkäufer und Käufer ungehindert Geschäfte abschließen.

Die aufklärerische Feier des freien und gleichen Individuums lud dazu ein, sich von Tradition und Bindung zu emanzipieren – von all dem, was vorher das Selbst bestimmte.

Doch noch fand das erwachte freie und gleiche Ich kollektive Identität in den flüchtigen Gebilden der Moderne: In der sozialen Klasse etwa, wo man unter seinesgleichen war oder eben in der Nation, die man durch Mythen wie die Herrmannschlacht oder die Niederlage des Vercingetorix beschwor und denen man am Sedanstag oder dem 14. Juli mit patriotischen Reden gedachte.

Im 19. Jahrhundert war man noch Arbeiter oder Unternehmer, ließen sich an Lebensstil und Denkart noch Franzosen und Deutsche unterscheiden. Ganz zu schweigen davon, dass sie bereit waren, ihr Land in Kriegen zu verteidigen.

Doch je mehr sich Freiheit und Gleichheit in der modernen Gesellschaft entfalteten, je mehr sie in Wahlrecht und Wohlfahrtsregelungen eingingen, um so mehr lösten sich die Individuen aus den flüchtigen Bindungen, um ihre wirtschaftlichen Interessen zu verfolgen; und um so mehr fiel auch das, was vorher Identität vermittelte, dem Markt anheim – auf ihm sollen Waren frei zirkulieren, aber Bräuche und Mentalitäten nicht stören.

Schon im 19. Jahrhundert stritten sich in Deutschland Juristen um den nationalen Charakter des Bürgerlichen Gesetzbuches: Es spiegele nicht den "germanischen Volksgeist" wider, sondern orientiere sich am Vernunftsrecht der Aufklärung, sagten die einen. Es sei aber nötig für die wirtschaftliche Entwicklung, sagten die anderen.

Später nivellierte der Sozialstaat soziale Klassen, so dass Arbeiter mit Aktien auch zu Unternehmern wurden; und noch später wuchs der EU- Binnenmarkt heran, auf dem nationale Eigenheiten immer mehr verschwinden.

Heute leben wir nicht grundlegend anders als unsere Zeitgenossen anderswo in Europa: Auch wir essen heute Pizza wie die Italiener, spielen Boule wie die Franzosen oder fragen sofort, was dies oder jenes kostet, wie einst nur die Engländer.

Und wie viele Menschen heute wegen Identitätskrisen Psychologen um Rat fragen, fragt auch die Gesellschaft, worin sich ihre Identität ausdrückt. Doch sie findet kaum mehr eine Antwort darauf, wie noch im 19. Jahrhundert. So scheint unsere nationale Identität tatsächlich in eine Krise geraten zu sein – aber nicht durch das Fremde.


Michael Böhm, Publizist, geboren 1969 in Dresden, studierte Politikwissenschaft in Berlin und Lille und lebt als freier Publizist in Berlin. Er schreibt für verschiedene Zeitschriften, so unter anderem für "Du - Das europäische Kulturmagazin". Letzte Buchveröffentlichung: "Alain de Benoist - Denker der Nouvelle Droite".
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