Auch in dieser Weltzeit: Die jungen Kroaten suchen für die aktuellen Probleme nicht in der Vergangenheit nach Lösungen, sondern orientieren sich an Brüssel und Berlin, sagt Holger Haibach, Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Zagreb, im Weltzeit-Interview.
Geschichtspolitik als Minenfeld
23:13 Minuten
Obwohl Kroatien mit Arbeitslosigkeit, Abwanderung und Korruption zu kämpfen hat, wählen die Menschen Parteien danach, wie sie zum Zweiten Weltkrieg und zum Jugoslawien-Krieg stehen. Die Suche nach der nationalen Identität polarisiert die Menschen wie kein anderes Thema im Land.
Komletinci im Osten Kroatiens. Im April 2021 legten zwei Männer ein Seil um das im Zentrum des Dorfes stehende Denkmal, banden das andere Ende an ihren Traktor und gaben Gas. So stürzte das Denkmal, das an die Opfer des Zweiten Weltkriegs erinnerte und an die Partisanen von Josip Broz Tito. Tito kämpfte im Zweiten Weltkrieg gegen die deutschen und italienischen Besatzer sowie deren einheimische Verbündete.
Die triumphalen Freudenrufe der zwei Männer sind auf Youtube verewigt, genauso wie der Zerstörungsakt selbst. Die Polizei ermittelt, doch dass die Täter bestraft werden, ist unwahrscheinlich. Denn Angriffe auf antifaschistische Denkmäler gehören im unabhängigen Kroatien zum Alltag. Immer geht es um Denkmäler, die in Jugoslawien unter der Herrschaft Titos entstanden – allein in Kroatien etwa 7000. Seit 1991 wurde ungefähr die Hälfte von ihnen zerstört oder beschädigt.
"Wir haben den Antifaschismus in der Verfassung verankert. Und wir haben sogar einen Feiertag eingeführt, den es vorher gar nicht gab: den Tag des antifaschistischen Kampfes", sagt der Historiker Hrvoje Klasić von der Uni Zagreb.
"In der Praxis haben wir es aber mit einem Anti-Antifaschismus zu tun. Die Denkmäler für Opfer des Faschismus und die für Antifaschisten wurden abgerissen. Straßen wurden umbenannt. Anstelle von Partisanen erhielten sie die Namen von Ustaša."
Die Ustaša verkörperten die kroatische Variante des Faschismus.
"Heute haben Sie in Kroatien mindestens 20 Straßen, die nach Ustaša-Leuten benannt wurden. Allein in Zagreb gibt es zehn solcher Straßen. Obwohl bekannt ist, dass zum Beispiel Mile Budak ein Minister war, der die Rassengesetze unterschrieb, hat dieser Mile Budak immer noch seine Straßen in zehn Orten Kroatiens. Das ist die aktuelle Lage."
Anhänger der Ustaša kämpften mit für die Unabhängigkeit
Als Deutschland im April 1941 das Königreich Jugoslawien zerschlug, verweigerte die stärkste politische Kraft in Kroatien, die Bauernpartei, die Kollaboration. Daraufhin holten Hitler und Mussolini die Ustaša aus dem italienischen Exil nach Zagreb. Diese kleine Gruppe proklamierte den unabhängigen Staat Kroatien. Ihr Ziel war ein Großkroatien ohne Minderheiten. Dabei machten die verschiedenen Minderheiten die Hälfte der Bevölkerung des neuen Staates aus. Die Ustaša erließen Rassengesetze nach deutschem Vorbild, ermordeten Serben, Juden und Roma. 1945 waren sie am Ende. Knapp 50 Jahre später, als im Rahmen des Jugoslawienkriegs in den Neunzigerjahren auch Kroatien um seine Unabhängigkeit kämpfte, gab es auf einmal Kampfverbände, die sich auf die Ustaša als Vorbild beriefen.
"Das Problem begann in den 1990er-Jahren. In der Theorie schien Kroatien der Idealfall eines antifaschistischen Landes zu sein. Damals hatten wir an der Spitze des Staates einen Antifaschisten."
Gemeint ist Franjo Tudjman, der erste demokratisch gewählte Präsident Kroatiens. Tudjman kämpfte bei Titos Partisanen und stieg nach dem Krieg zum General auf. Später wurde er zum Dissidenten, der für Kroatiens Unabhängigkeit eintrat. 1989 gründete er die Partei HDZ, ein Sammelbecken für national gewandelte Ex-Kommunisten. Es kamen aber auch Exil-Kroaten, darunter Anhänger des Ustaša-Regimes. Sie waren entschlossen, dem neuen Kroatien ihren Stempel aufzudrücken, zumal im Krieg.
Bis heute spalten die Rituale von Ustaša-Anhängern, ihre Symbole die Gesellschaft. Für viele Kroaten gleicht der Ustaša-Gruß "Za dom spremni" – "Für die Heimat bereit" – einer Schande. Die Nationalpopulisten der HDZ behaupteten lange Zeit, der Gruß sei älter als die Ustaša-Bewegung. Vor zwei Jahren gab die damalige HDZ-Staatspräsidentin Kolinda Grabar-Kitarović erstmals zu, dass der Gruß doch kein alter kroatischer, sondern ein Ustaša-Gruß ist. Ihre Berater hätten sie falsch informiert, entschuldigte sie sich. Eine Regierungskommission entschied: Der Gruß sei zwar an sich verfassungswidrig, beim Gedenken an die toten Kroaten im Jugoslawienkrieg könne er aber benutzt werden.
Geschichtspolitik wiegt schwer in Kroatien, weil der Staat seit 30 Jahren hin- und her laviert, sich offiziell zum Antifaschismus bekennt, Symbole und Gesinnung der Ustaša aber durch die Hintertür in die Gesellschaft eindringen lässt.
Denkmal für weltberühmten Antifaschisten zerstört
Die kleine Stadt Opuzen liegt im Süden Kroatiens am Fluss Neretva. Hier hat man 1978 ein Denkmal für Stjepan Filipović aufgestellt, den international bekanntesten Sohn der Stadt. Filipović kommandierte im Zweiten Weltkrieg eine Einheit von Titos Partisanen. 1942 starb er mit 26 Jahren den Heldentod: Auf Anordnung der deutschen Besatzer wurde Filipović in der serbischen Stadt Valjevo gehenkt. Mit der Schlinge um den Hals reckte der junge Mann vor versammelter Menge seine Fäuste zum Himmel und rief die Menschen zum Widerstand auf. Diesen Moment fotografierte eine Frau – das Foto wurde weltberühmt. Heute kann man es im Holocaust-Gedenkmuseum von Washington betrachten.
In Opuzen fehlt vom Filipović-Denkmal jede Spur. Das Gelände, wo es stand, hat die Stadtverwaltung unlängst in eine Gewerbezone verwandelt. Das Denkmal sprengten Unbekannte bereits 1991. Wir fragen herum, wer es war, wer dahinterstand und ob das so in Ordnung war oder nicht? Manche halten sich zurück: "Schwer zu sagen." Ein paar junge Männer finden, man sollte alle Partisanendenkmäler "wegmachen". Das sei Demokratie, lachen sie. Die Antifa-Tradition und überhaupt Titos Jugoslawien ginge ihnen "am Arsch vorbei". Es ist eine kleine lautstarke Gruppe, die gegen den Antifaschismus und gegen die Partisanendenkmäler wettert. Viele Bürger in Opuzen hätten ihren Filipović gerne zurück.
"Filipović ist für seine Ideale gestorben. Eigentlich müssten wir auf ihn stolz sein, anstatt uns zu schämen. Das Denkmal sollte zurückkehren", sagt eine Lehrerin aus Opuzen, die ihren Namen lieber nicht nennen will.
Zerstörung des Denkmals polarisiert die Dorfbewohner
Am Ufer der Neretva finden wir das Geburtshaus von Stjepan Filipović mit einer verwitterten Inschrift an der Fassade. Im Nachbarhaus leben Marinko Filipović, ein Verwandter des Widerstandskämpfers, und seine Frau Zvjezdana. Was wissen sie über die Zerstörung des Denkmals 1991?
"Die HDZ stand dahinter, mächtige Leute, die später im kroatischen Parlament saßen. Die haben den Jungs hier Geld gegeben. Wir persönlich wissen, wer es war. Aber das ist nicht für die Öffentlichkeit. Das sind immer noch große Dinge hier."
Nach der Zerstörung 1991 retteten Bürger von Opuzen Bruchstücke des Denkmals und versteckten sie bei sich zu Hause. Derzeit lagern sie in einer Kunstschmiedewerkstatt in der kroatischen Hauptstadt Zagreb. Für den Wiederaufbau in Opuzen setzen sich mittlerweile Aktivisten aus ganz Kroatien ein.
"Stjepan Filipović ist ein universales Symbol des Widerstands und der Freiheit. Wenn dieser Mensch so mutig war, können wir auch etwas Mut beweisen", sagt die Zagreber Kunsthistorikerin Davorka Perić. 2019 hat sie die Initiative "Refreshing Memories" ins Leben gerufen, um kroatische Denkmäler des Antifaschismus zu retten.
"Die Menschen fragen mich oft, warum ich das mache, ob ich einen Nutzen daraus ziehe oder ob ich dadurch Probleme bekomme. Sie sagen, ich solle auf mich aufpassen, wenn ich die Denkmäler aufsuche. Es gäbe Leute, die das stören würde."
Beruht Kroatien auf dem Antifaschismus der Partisanen?
Davorka Perić ist gut vernetzt, zum Beispiel mit VEDRA – einem Verein von kroatischen Veteranen aus dem Jugoslawien-Krieg der 1990er-Jahre. VEDRA wurde 2019 im kroatischen Split gegründet, der Hauptstadt der Region Dalmatien. Die Veteranen beharren darauf, dass das heutige Kroatien auf dem Antifaschismus der Partisanen beruhe. Mit den Ustaša dürfe es nichts zu tun haben.
"Das Erbe aus dem Zweiten Weltkrieg zieht eine Trennlinie durch unsere Gesellschaft", sagt Zoran Radman vom Veteranenverein VEDRA.
"Kürzlich sind dazu einige wissenschaftliche Studien erschienen. Die Menschen in unserem Land wählen politische Parteien danach, wie sie zum Zweiten Weltkrieg stehen und zum Kroatien-Krieg."
Die größten Parteien in Kroatien mobilisieren ihre Wähler nicht so sehr durch Programme gegen Massenabwanderung aus dem Land, gegen Arbeitslosigkeit oder Korruption. Sie gewinnen ihre Anhänger vor allem mit ihrer Position zur Vergangenheit. Es geht um Fragen der nationalen Identität, und die sind durch die Erfahrungen im Jugoslawien-Krieg bis heute stark emotional besetzt. Man weiß: Wer Sozialdemokraten wählt, hat Vorlieben für die Partisanentradition, wer ultrarechts votiert, findet den Ustaša-Staat gut. Die HDZ-Wähler bewegen sich dazwischen und haben oft Familienangehörige, die in den 90er-Jahren im Jugoslawien-Krieg kämpften.
Kroatische Stadt Split wurde 1941 italienisch
Besonders viele Partisanen kann Dalmatien aufweisen. Dafür gibt es einen Grund. Ante Pavelić, der Führer im Ustaša-Marionettenstaat, trat Dalmatien 1941 an Italien ab. Split wurde eine italienische Stadt.
"Wirklich unglaublich ist es, dass man hier in Split sogar inoffiziell den Tag der Gründung des Ustaša-Staates feiert – in einer Stadt, die dieses Regime an Italien verkauft hat."
Radman glaubt, dass sich dieser Widerspruch nur durch den langjährigen Zuzug von Menschen aus anderen Regionen in die Metropole Split erklären lässt.
"Leider sieht man an den Wänden unserer Häuser sehr viel mehr Symbole der Ustaša oder Hakenkreuze als irgendwelche antifaschistischen Parolen", beklagt auch Andrea Resner, eine junge Multimedia-Künstlerin aus Split.
"Aber das heißt nicht, dass es keinen Antifaschismus gibt oder dass er untergegangen ist. Es heißt nur, dass im Moment eine solche Atmosphäre herrscht."
Vor einigen Monaten hat Resner im alten, traditionsreichen Spliter Stadtviertel Varoš ein großes Wandgemälde geschaffen. Den Auftrag dazu erhielt sie von "Domine", einer feministischen NGO. Zwischen Nelken und Dornenzweigen ist eine lachende junge Frau zu sehen: Palmina Piplović aus Varoš. Palmina hatte als junge Frau im Zweiten Weltkrieg Wehrmachtssoldaten dazu gebracht, zu den Partisanen überzulaufen. 1944 wurde sie von der Gestapo verhaftet, gefoltert und zwei Tage lang öffentlich an einem Strommast aufgehängt.
Privatinitiative: Wiederbelebung antifaschistischer Tradition
In Nachkriegsjugoslawien trug ein Kindergarten in Varoš den Namen der Widerstandsheldin. Das Grundstück des Kindergartens hatte die Familie Piplović der Stadt geschenkt. Heute trägt der Kindergarten nicht mehr den Namen von Palmina Piplović. Er heißt nach einer Affenart Tamarin-Kindergarten. Palmina ist durch Resners Wandmalerei erneut sichtbar geworden.
"Ich glaube, dass man ihr ein riesiges Unrecht getan hat. Es ist eine große Wunde für die Stadt."
Zwei Schwestern aus Varoš haben die Fassade ihres alten Hauses für das Wandbild zur Verfügung gestellt, eine private Initiative. Bei der Stadtverwaltung habe man kein Gehör gefunden, erzählt Resner. Solche Initiativen zur Wiederbelebung antifaschistischer Traditionen aus der Partisanenbewegung mehren sich in letzter Zeit, ob in Split, in Opuzen oder in Zagreb. Immer mehr Menschen in Kroatien wehren sich dagegen, dass die Erinnerung an den antifaschistischen Partisanenkampf aus ihren Dörfern, ihren Städten, ihrem Land verdrängt wird.
Nicht ohne Erfolg: In diesem Jahr hat die kroatische Regierung zum ersten Mal die Feiern zum Tag des antifaschistischen Kampfes am 22. Juni selbst in die Hand genommen und nicht wie bisher den antifaschistischen Verbänden überlassen. So werde es auch bleiben, versicherte der kroatische Premierminister Andrej Plenković – im Brezovica-Wald bei Sisak, 60 Kilometer südlich von Zagreb. Dort hatten sich vor 80 Jahren die ersten Partisanengruppen Jugoslawiens gebildet. Es sei nicht ausgeschlossen, glauben Kommentatoren, dass demnächst sogar der Ustaša-Gruß "Za dom spremni" - "Für die Heimat bereit" - mit Geldstrafen geahndet wird.